Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Erdogans Kritiker leben immer gefährlicher
Neue Verhaftungswelle vor EU-Besuch in der Türkei – Oppositionspolitiker von Polizist krankenhausreif geschlagen
ISTANBUL - Unmittelbar vor einem Besuch der EU-Spitze bei dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan hat die Unterdrückung regierungskritischer Stimmen in der Türkei einen neuen Höhepunkt erreicht: Der Menschenrechtspolitiker Ömer Faruk Gergerlioglu wurde nach Aberkennung seines Abgeordnetenmandats am Wochenende verhaftet, von Polizisten krankenhausreif geschlagen und schließlich aus der Intensivstation geholt und in ein Hochsicherheitsgefängnis gebracht. Am Montag wurden bei Morgengrauen zehn pensionierte Admiräle verhaftet, weil sie sich in einem offenen Brief besorgt über die Regierungspolitik geäußert hatten.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel werden am Dienstag in Ankara erwartet, um mit Erdogan über eine Ausweitung der Zollunion und andere Anreize zu sprechen, die der jüngste EU-Gipfel der Türkei in Aussicht gestellt hat.
Gergerlioglu wurde am Freitagabend von einem Polizeiaufgebot aus seiner Wohnung geholt und vor laufenden Kameras ins Gesicht geschlagen. Nach Angaben seiner Familie wurde er auch auf dem Transport geschlagen und bedroht. Der 55-Jährige musste ins Krankenhaus eingeliefert und über Nacht auf der Intensivstation behandelt werden; am Samstag wurde er vom Krankenhaus direkt ins Gefängnis gebracht. Gergerlioglu saß für die Kurdenpartei HDP im türkischen Parlament und prangerte die Menschenrechtsverletzungen der türkischen Regierung an, bis er vor zwei Wochen auf Druck der Regierung seiner parlamentarischen Immunität entkleidet und aus der Volksvertretung geworfen wurde. Er soll nun zweieinhalb Jahre wegen eines Tweets von 2016 absitzen, in dem er Friedensverhandlungen mit der kurdischen PKK befürwortete – das wurde ihm als Terrorpropaganda ausgelegt.
Gergerlioglu hatte sein Mandat, genutzt, um Menschenrechtsverletzungen ans Tageslicht zu bringen. Tag für Tag stellte sich der weißhaarige Arzt vor eine Parlamentskulisse und hielt Fotos und Dokumente vor die Kamera, in denen er Unrecht, Folter und Misshandlungen belegte. Die Regierung brachte er insbesondere mit seinen Enthüllungen von Polizeigewalt gegen sich auf. Innenminister Süleyman Soylu nannte ihn einen „Terroristen“, weil er damit die Polizei herabwürdige. Zu seiner Festnahme schickte das Präsidium einen Beamten, den Gergerlioglu vor zwei Jahren wegen Folterpraktiken angeprangert hatte – er war es, der ihn bei der Verhaftung ins Gesicht schlug.
Eine neue Säuberungswelle eröffnete die Regierung am Montag mit der Verhaftung von zehn Unterzeichnern eines offenen Briefes, mit dem sich 104 pensionierte Admiräle an die Regierung gewandt hatten. Die Verfasser äußerten sich darin besorgt über mögliche Pläne der Regierung, das Montreux-Abkommen aufzukündigen, das internationale Schifffahrtsrechte im Bosporus regelt. Die Debatte über einen solchen Schritt erfülle sie mit Sorge, hatten die Ex-Militärs geschrieben. Regierungspolitiker warfen ihnen unbotmäßige Einmischung und versuchten Umsturz der staatlichen Ordnung vor und riefen nach der Staatsanwaltschaft, die umgehend ein Ermittlungsverfahren einleitete. „Nicht nur die Unterzeichner, sondern alle, die sie ermutigt haben könnten, werden von der Justiz zur Rechenschaft gezogen“, kündigte das Informationsamt der Regierung an. Am Morgen darauf begannen die Verhaftungen.