Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Schonfrist ist vorbei
Insolvenz-Aussetzung läuft endgültig aus – Viele Ökonomen warnen nun vor einer Pleitewelle
BERLIN/RAVENSBURG - Am Samstag laufen die verbleibenden Ausnahmen von der Insolvenzpflicht aus. Dann müssen auch diejenigen Unternehmen, die auf Corona-Überbrückungsgeld gewartet haben, ihre Überschuldung wieder mitteilen wie üblich. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute sagen daher erneut einen Anstieg der Zahl der Insolvenzen vorher. Die bisher niedrigen Zahlen liegen vor allem an der Hilfe vom Staat und den Ausnahmen von der Anmeldepflicht, erklären die Ökonomen in ihrer Gemeinschaftsdiagnose. Nachdem die große Pleitewelle entgegen aller Prognosen bisher ausgeblieben ist, ist das tatsächliche Ausmaß des Nachholeffekts jedoch unklar.
Tatsächlich ist die Zahl der Firmenzusammenbrüche im vergangenen Jahr auf den niedrigsten Stand seit Einführung der Insolvenzordnung 1999 gefallen, berichtete das Statistische Bundesamt. Demnach meldeten die deutschen Amtsgerichte von Januar bis Dezember 15 841 Firmenpleiten. Das waren 15,5 Prozent weniger als im Jahr zuvor.
Unter normalen Umständen müssen Kapitalgesellschaften, die ihre Rechnungen nicht mehr zahlen können oder überschuldet sind, innerhalb von drei Wochen einen Insolvenzantrag stellen. Das soll Geschäftspartner und Banken davor schützen, Geld zu verlieren. Außerdem eröffnet es den Weg zu einer kontrollierten Gesundung der Firmenfinanzen. Bei natürlichen Personen, was auch Personengesellschaften einschließt, besteht diese strenge Insolvenzantragspflicht nicht, weil diese mit ihrem gesamten Privatvermögen haften.
Die Regierung hatte im Frühjahr 2020 die Insolvenzpflicht angesichts der Corona-Folgen ausgesetzt und sie nach und nach wieder eingeführt. Für zahlungsunfähige Unternehmen gilt sie seit Oktober 2020 wieder. Nur überschuldete Firmen, die Ansprüche auf Corona-Hilfen haben, durften weiter warten. Das sollte verhindern, dass Firmen vom Markt verschwinden, weil die Ministerien mit den Auszahlungen nicht hinterherkommen.
Inzwischen hat sich der Stau bei den Hilfszahlungen jedoch zu einem großen Teil aufgelöst. Nach Aussage von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) habe der Bund die Abschlagszahlungen auf die Novemberund Dezemberhilfe zu rund 96 Prozent geleistet und auf die Überbrückungshilfe III 4,6 Milliarden Euro als Vorschuss ausgezahlt.
Außerdem haben Wirtschaftswissenschaftler immer eindringlicher vor den Folgen gewarnt, die drohen, wenn unausweichliche Pleiten immer weiter hinausgezögert werden. Durch die Aussetzung der Insolvenzpflicht werden die Unternehmen nicht gesünder – die realen Probleme fallen bloß in der Statistik nicht so auf. Und die Bundesregierung hält mit ihren Corona-Hilfen auch Unternehmen am Leben, die selbst ohne die akute Krise nicht überlebt hätten. Von „Zombie-Unternehmen“sprechen Experten der Wirtschaftsauskunft Creditreform. Das Unternehmen führt Statistiken über Insolvenzen, Zahlungsverzüge und andere Anzeichen für den Gesundheitszustand der deutschen Wirtschaft.
Die Creditreform und das LeibnizZentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) schätzen in einer gemeinsamen Untersuchung, dass sich ein Rückstau von 25 000 Betrieben gebildet hat, die nicht in ihrer derzeitigen Form überlebensfähig sind. „Die undifferenzierte Verteilung der Hilfsgelder und die fehlende Öffnungsperspektive“zusammen mit der Aussetzung der Insolvenzen bilde eine fatale Kombination, sagt Patrik-Ludwig Hantzsch, Ökonom bei der Creditreform.
So haben während der Wintermonate in der Gastronomie nur halb so viele Betriebe Insolvenz angemeldet wie im Durchschnitt normaler Jahre. Wenn angeschlagene Unternehmen jedoch viel zu spät aus dem Markt ausscheiden, hinterlassen sie meist einen Berg unbezahlter Rechnungen. Das sind Folgeschäden, die sich in der Wirtschaft fortpflanzen und auch die Erholung gesunder Firmen bedrohen.
Für die Bundesregierung ist der groß angelegte Erhalt bestehender Unternehmen jedoch Teil der Wirtschaftspolitik in Corona-Zeiten. „Durch die umfassende fiskalische Antwort ist es gelungen, etwa 400 000 Insolvenzen zu verhindern“, sagt Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) beim Bankentag, einer Konferenz des Bankenverbands, die in diesem Jahr online stattgefunden hat. Zur Stabilisierung der Lage gehört es dazu, erst einmal wenig Fragen zu stellen und viel auszuzahlen. „Es ist für mich ein selbstverständliches Gebot gesamtstaatlicher Solidarität, dass wir den betroffenen Unternehmen helfen“, sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Jeder Betrieb, der erst einmal weiterexistiert, erhält Arbeitsplätze.
Doch Kritiker befürchten Verzerrungen, die nach dem Abklingen der Pandemie die Erholung belasten können. „Insbesondere kleine, finanziell schwache Unternehmen, die unter normalen wirtschaftlichen Umständen mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Insolvenz gegangen wären, werden am Leben erhalten“, sagt Simona Christine Murmann vom ZEW. Sie hätten oft keine Perspektive auf eine erfolgreiche Sanierung.
Die Erwartung einer Pleitewelle teilen aber längst nicht alle Experten. Denn es gibt immer noch zahlreiche Hilfsprogramme und Unterstützungsmaßnahmen wie die Kurzarbeit, die viele Unternehmen über Wasser halten. Zudem soll die Überbrückungshilfe III, die eigentlich bis zum 30. Juni befristet ist, verlängert werden. Altmaier verhandelt mit Finanzminister Olaf Scholz, diese bis zum Ende des Jahres fortzusetzen. Zuletzt hatte die Regierung noch einen Eigenkapitalzuschuss für besonders stark vom Lockdown betroffene Unternehmen eingeführt.
Und schließlich haben in Schwierigkeiten geratene Unternehmen seit Jahresanfang die Möglichkeit, sich auch außerhalb der Insolvenz neu auszurichten. Mit der Einführung des neuen Unternehmensstabilisierungsund -restrukturierungsgesetzes (StaRUG) ist eine sogenannte vorinsolvenzliche Sanierung möglich. Allerdings muss das Unternehmen dafür im Kern gesund sein und braucht ein überlebensfähiges Geschäftsmodell.
Klassische Anwendungsfälle sind etwa Unternehmen, bei denen eine unternehmerische Fehlentscheidung oder ein exogener Schock zu einer Schieflage geführt hat. „Wir werden also viel mehr Sanierungen sehen, bevor in Schwierigkeiten geratene Unternehmen den Gang zum Insolvenzrichter antreten müssen“, prognostiziert ein Restrukturierungsexperte. Dass ein Unternehmen ungebremst in die Insolvenz schlittert, so seine Einschätzung, dürfte nur noch selten der Fall sein.