Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Diese unsagbare Leere einer Generation
Judith Hermanns Roman steht verdientermaßen auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises
Wie gelähmt stehen die Figuren von Judith Hermann zwischen diesem unsagbaren Verlangen nach Freiheit und einer unbedingten Sehnsucht nach Geborgenheit. Sie sind Zerrissene ihrer selbst und schaffen es nicht, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Schon im viel gefeierten Debüt „Sommerhaus, später“(1998) war das so. Der Kritiker Hellmuth Karasek sprach vom „Sound einer neuen Generation“und Marcel Reich-Ranicki prophezeite dieser „hervorragenden Autorin“großen Erfolg. Die 1970 in Berlin geborene Judith Hermann stand an der Spitze jener jungen Autorinnen wie Karen Duve, Zoë Jenny, Julia Franck und Malin Schwerdtfeger, die damals als neues „Fräuleinwunder“gefeiert wurden.
Jahre vergehen. Und mit Judith Hermann haben auch die Protagonistinnen und Protagonisten ihrer Bücher eine andere Lebensphase erreicht. Die meisten von ihnen haben schon ein Leben hinter sich, sind geschieden oder sonst wie gescheitert. Angekommen sind sie immer noch nicht. So wie die Ich-Erzählerin im neuen Roman „Daheim“, der während eines Landgang-Stipendiums in
Friesland entstanden ist. Zu Recht hat er es auf die Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse geschafft. Es wäre Judith Hermann zu wünschen, dass sie den Preis holt. Liegen, bei allem Erfolg, ihre letzten größeren Auszeichnungen mit dem Erich-Fried-(2014), Hölderlin(2009) und Kleistpreis (2001) doch alle schon ein paar Jahre zurück.
Mit 20 hat die namenlose Erzählerin die Abzweigung verpasst. Sie arbeitete damals am Fließband in einer Zigarettenfabrik, als ein Zauberer sie ansprach, ob sie seine Assistentin werden wolle. „Er sagte, für meine
Kiste. Die zersägte
Jungfrau. Eine Assistentin zum Zersägen.“Auf einem Kreuzfahrtschiff hätte sie mit ihm nach Singapur fahren können und vielleicht dortbleiben. Sie ist aber nicht gefahren. Hat stattdessen Otis geheiratet und Tochter Ann bekommen. Fast 30 Jahre ist das jetzt her. Als Ann aus dem Haus war, haben Otis und sie sich getrennt. „Otis findet, Kinder wecken Gefühle in dir und gehen los und lassen dich mit Gefühlen im Regen stehen.“Manchmal ruft die
Tochter auf ihren Reisen rund um die Welt noch an und erklärt der Mutter, dass nichts im Leben eine Bedeutung habe.
Das geordnete Leben in der Stadt hat die mittlerweile 47-jährige Erzählerin hinter sich gelassen, ist an die „östliche Küste“gezogen, wo sie bei ihrem älteren Bruder Sascha in der Kneipe kellnert.
Während der sich mit 60 hoffnungslos in eine Zwanzigjährige verliebt hat, sehnt die Erzählerin sich so sehr nach einem einfachen Leben, dass sie sich mit dem Bruder ihrer Nachbarin Mimi einlässt. Der heißt Arild, tanzt mit Bierflasche in der Hand wie ein Bär und hat den Bauernhof der Eltern geerbt. Tausend Schweine. Beim ersten Rendezvous fragt er, ob sie sie sehen wolle. Die Schweine wirken nackt in ihren engen Boxen. „Etliche haben keine Schwänze mehr, ihre Rücken und Flanken sind zerkratzt, eines liegt alleine in einer Ecke, die kurzen Beine von sich gestreckt, unmöglich zu erkennen, ob es atmet.“
Die Männer kommen nicht gut weg in diesem Buch. Wenn es darum geht, dem leeren Leben einen Sinn zu geben, sitzen sie mit hohlen Augen da, zucken mit den Schultern und holen sich noch ein Bier. Trotzdem wirft sich die Erzählerin in ihrer
Verzweiflung diesem Bauern in die Arme. Sie verharrt wie er in Passivität, hat es nicht gelernt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Judith Hermann erzählt das alles in ihrem typischen Sound. Retardierend, atmosphärisch, mit einem Hang zur Schwermut. Und sie findet starke Bilder wie die Kiste des Zauberers, die sie motivisch variiert. Darin besteht eine der großen Qualitäten dieses Romans.
So verlockend erscheint der Protagonistin auf ihrer Suche nach Heimat das einfache Leben auf dem Land, wo die Menschen ihren Geburtsort nie verlassen, dass sie sich am Ende sogar vorstellen kann, zu bleiben. Sie mag erkennen, dass es sich um eine Illusion handelt. Was aber bleibt ihr?
Nach „Aller Liebe Anfang“(2014) hat Judith Hermann, die mit Kurzgeschichten bekannt wurde, mit ihrem zweiten Roman nun bewiesen, dass sie auch dieses Genre exzellent beherrscht. Ein Buch, dass ausgezeichnet in die derzeitigen Genderdebatten passt, zugleich aber so zeitlos ist, dass es seinen festen Platz in der Literaturgeschichte haben wird.
Judith Hermann: Daheim, S.Fischer, 192 Seiten, 21 Euro.