Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Auch aus Liebenau führen Spuren nach Grafeneck

Straßenthe­ater aus Reutlingen erinnert auf Kirchplatz an „Euthanasie“-Verbrechen der Nationalso­zialisten

- Von Roland Weiß

MECKENBEUR­EN - Rund 20 Interessie­rte haben am Donnerstag­vormittag auf dem Meckenbeur­er Kirchplatz das Stück „Hierbleibe­n...Spuren nach Grafeneck“verfolgt. Mit das größte Kompliment für die mobile Produktion des Reutlinger Theaters Die Tonne: Trotz großer Hitze blieben die Zuschauer gebannt vor Ort, ausgestatt­et mit schwarzen Schirmen, die das Ensemble eigentlich zum Schutz vor Regen mit sich führt.

Auf seine eigene Weise beschäftig­t sich das Straßenthe­ater an 25 Orten in Baden-Württember­g mit den „Euthanasie“-Verbrechen der Nationalso­zialisten. Ihnen waren in Grafeneck 10 654 Menschen mit Behinderun­gen oder geistiger Erkrankung zum Opfer gefallen. Sie stammten aus 49 Einrichtun­gen im süddeutsch­en Raum, darunter aus der „Pflegeund Bewahranst­alt“in Liebenau und Rosenharz. Von dort wurden ab Juli 1940 im Zuge der berüchtigt­en „Aktion T4“501 Bewohnerin­nen und Bewohner in den berüchtigt­en „grauen Bussen“deportiert und in Grafeneck und Hadamar getötet.

Dass Grafeneck im Kreis Reutlingen liegt und jeder Bewohner dort um die Spuren aus der NS-Zeit weiß, stellt Projektlei­ter Maximilian Tremmel zufolge einen der Motivation­sstränge dar, warum sich das Theater Die Tonne 2020/21 dem Vorhaben annimmt. Im Gespräch mit der SZ skizziert er, was beabsichti­gt war und was coronabedi­ngt eingeschrä­nkt möglich ist. Auf Interaktio­nen mit dem Publikum muss ebenso verzichtet werden, wie auf die ursprüngli­che Gliederung mit vielen kleineren Sequenzen.

An ihre Stelle ist ein 90-minütiges Stück (Regie: Enrico Urbanek) getreten, das bewegende Begegnunge­n mit dem Ensemble bietet – von der

Choreograf­ie der Textbeiträ­ge über die Musik bis zu bildender Kunst, Medienkuns­t und dokumentar­ischen Elementen.

Letztere haben stets eine ortsspezif­ische Färbung, die auf historisch­en Fakten beruht. Auch für Meckenbeur­en wurde – in Zusammenar­beit

mit dem Dokumentat­ionszentru­m Gedenkstät­te Grafeneck sowie der Stiftung Liebenau (im Besonderen mit Susanne Droste-Gräff) – ein direkter regionaler und gesellscha­ftlicher Bezug erstellt.

Premiere für „Hierbleibe­n...Spuren nach Grafeneck“war nicht wie geplant im Mai, sondern erst im September 2020. Lediglich sieben Auftritte waren im Vorjahr möglich, und 2021 kamen bislang Rastatt, Sigmaringe­n und Meckenbeur­en hinzu.

15 weitere Orte, von denen damals ebenfalls Menschen unter dem Deckmantel der Euthanasie abtranspor­tiert wurden, will das inklusive Ensemble noch bespielen. Die Förderer hinter dem Projekt (LEADER, ein Programm der Europäisch­en Union, TRAFO, eine Initiative der Kulturstif­tung des Bundes sowie Daimler Truck) haben bereits eine Verlängeru­ng ihres Engagement­s bis zu den Sommerferi­en angekündig­t. Dadurch wird beispielsw­eise ein Auftritt in Ravensburg am 8. Juli möglich. Unklar ist, ob auch die anvisierte­n Open-Air-Aufführung­en in Tettnang (in Erinnerung an die Deportiert­en aus Pfingstwei­d) oder Bodnegg (Rosenharz) terminlich noch machbar sind.

Das Format des Straßenthe­aters ist Maximilian Tremmel zufolge bewusst gewählt worden. Mit ihm werde die Begegnung mit Menschen gesucht, die sonst vielleicht nicht ins Theater gehen – „wir erreichen Leute, die einkaufen sind oder spazieren gehen“, hat er beobachtet. Dabei können Interessie­rte an den viel besuchten Plätzen zwanglos und bei freiem Eintritt einfach dazustoßen und auch wieder weiterzieh­en.

Den Wert der zufälligen wie bereichern­den Begegnung erfuhr das Ensemble an diesem Tag auch selbst – wurde ihm doch von Erika Koenig (Kindergart­en-Leiterin St. Maria) ein Karton voller Eis am Stiel kredenzt. Die Meckenbeur­er Gastfreund­lichkeit bleibt also sicher in Erinnerung ...

Das seit 60 Jahren bestehende Theater Reutlingen Die Tonne hat seit vielen Jahren Erfahrunge­n mit inklusiver Theaterarb­eit und präsentier­t seine Inszenieru­ngen regelmäßig auf Festivals im deutschspr­achigen Raum. Weitere informatio­nen zum aktuellen Stück gibt es unter

spuren-nach-grafeneck.de

 ?? FOTO: RWE ?? An die 501 Menschen, die von den Nationalso­zialisten aus Einrichtun­gen in Liebenau und Rosenharz deportiert und ermordet wurden, erinnert das Stück auf dem Meckenbeur­er Kirchplatz.
FOTO: RWE An die 501 Menschen, die von den Nationalso­zialisten aus Einrichtun­gen in Liebenau und Rosenharz deportiert und ermordet wurden, erinnert das Stück auf dem Meckenbeur­er Kirchplatz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany