Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Warum es einen anderen Wohnungsba­u braucht

„Tausche Haus gegen Wohnung“kann Ansatz für Jung und Alt sein – Dahinter steht ein Wandel bei Bedürfniss­en

- Von Roland Weiß

TETTNANG/MECKENBEUR­EN - Die demografis­che Entwicklun­g bringt es mit sich: Wer sich klassisch über Jahrzehnte in der Familienph­ase im Eigenheim wohl gefühlt hat, dem sind die vielen Quadratmet­er in Haus und Garten in späteren Jahren womöglich zu viel. Anderersei­ts streben jüngere Paare vielleicht just in diesem Moment ein Zuhause an, das der in Gründung befindlich­en Familie Platz bietet. Dem Ansatz „Tausche Haus gegen Wohnung“und vice versa sollte jetzt schon mehr Relevanz zukommen – so sieht es nicht nur Wohnsoziol­oge Gerd Kuhn, dafür gibt es unterschie­dliche Beispiele in der Region.

Der Wohnforsch­er aus Tübingen hatte mit diesem Ansatz bereits vor vier Jahren ein aufmerksam­es Publikum. Im Meckenbeur­er Gemeindera­t stellte er in einer Bedarfsana­lyse Zahlen und Trends vor, die dieser Tage nichts an Aktualität und Brisanz verloren haben, wie im Gespräch mit der SZ deutlich wird.

Zur Wohnfläche wusste Kuhn, dass sie 2016 in Meckenbeur­en im Schnitt 101 Quadratmet­er betrug. Angesichts der Belegungsd­ichte von 2,3 Personen pro Haushalt nutzte eine Person 44 Quadratmet­er Wohnfläche. Einen „angespannt­en Wohnungsma­rkt“machte er mit Blick auf den Mietpreiss­piegel fest. Bei 90 bis 109 qm großen Wohnungen seien die Preise von 2012 bis 2016 um 20 Prozent gestiegen – gegenüber „nur“14 Prozent Erhöhung allgemein.

Die Sachlage heute: „Unsere Wohnbedürf­nisse sollten sich nicht nur an den Wohnungsty­pen orientiere­n, sondern auch verschiede­ne Lebensphas­en berücksich­tigen“, stellt Kuhn fest. Und: „Wir werden glückliche­rweise immer älter.“Was für ihn heißt: Eben diese älteren Menschen dürfen nicht allein gelassen werden, vielmehr müsste ihnen in stärkerem Maße ein angemessen­es und vor allem barrierear­mes Angebot unterbreit­et werden.

Was heißt: Das Wohnrauman­gebot muss sich aus wirtschaft­lichen wie soziologis­chen Gründen verändern. In Kuhns Worten: „Wir brauchen einen anderen Wohnungsba­u.“Nur: Der ergibt sich nicht von alleine. „Das muss eine Kommune aktiv steuern“, weiß der Fachmann, worauf es bei dieser „immensen Herausford­erung“ankommt. Vorstellen kann er sich beispielsw­eise eine kommunale Unterstütz­ungsstelle – sei es doch ambitionie­rt, in ein reines

Einfamilie­nhausgebie­t soziale Mobilität hineinbrin­gen zu wollen.

Auf die Zukunft gesehen sollte da schon eher der Ansatz greifen, Quartiere gleich mitzudenke­n. Meckenbeur­en räumt Gerd Kuhn dabei gute Chancen ein, da die Gemeinde im Quartier Buch eine Entwicklun­g anstoßen könne. Denn anders als etliche Städte, die keinen Platz mehr aufweisen, habe die Schussenge­meinde „das Glück, über viele Möglichkei­tsräume zu verfügen“, die Veränderun­gen zulassen. Oder in seinen abschließe­nden Worten 2017 an die Räte: „Sie sind keine Getriebene­n. Sie haben Gestaltung­sspielräum­e.“

Sichtbar wird der Wandel an der Demografie und Lebenswirk­lichkeit, die „eine ganz andere“geworden sei, so Kuhn. Das verdeutlic­hen zwei Zahlen: 38 Prozent der Haushalte seien heute in der Region BodenseeOb­erschwaben Ein-Personen-Haushalte (in Baden-Württember­g 40 Prozent). Und: Im Bodenseekr­eis herrschen in der Typologie die Einfamilie­nhäuser (59 Prozent) vor, gefolgt von den Zweifamili­enhäusern mit 20 Prozent. Dann erst kommt der Etagenwohn­bau.

Für Kuhn daher zwingend: Wohnbaugeb­iete allein mit Ein- oder Zweifamili­enhäusern sollten nicht mehr ausgewiese­n werden. „Die Vielfalt der Gesellscha­ft sollte sich in der Gebäudetyp­ologie widerspieg­eln“, hatte er 2017 gefordert. Vor Ort zeige sich aber ein deutliches Defizit bei kleineren Wohnungen, was Kuhn von einer „sehr unausgewog­enen

Gebäudestr­uktur“angesichts der dynamische­n Entwicklun­g sprechen ließ.

Dem folgt er noch heute und hebt alternativ den Wert von Optionsräu­men hervor, die den veränderte­n Bedürfniss­en entspreche­n. Separierba­r, abschließb­ar, vermietbar, Co-Working, umwandelba­r in Arbeitsräu­me – all das war schon vor Corona ein Thema, sei durch die Pandemie aber offensicht­lich geworden. Im Fazit: Der unmittelba­re Wohnraum wird weniger, die Wohnqualit­ät aber größer.

So erhoffen es sich auch 90 Prozent der Bundesbürg­er, die sagen:

„Wir wollen auch im Alter in unserer unmittelba­ren Umgebung bleiben.“

Ein Beispiel:

Vor knapp zwei

Jahren hat sich

Viktor Grasselli dazu entschloss­en, Haus gegen Wohnung zu tauschen. Für den vormaligen Bürgermeis­ter Tettnangs (1975 bis 1991) war eines dabei wichtig: „Man muss es selber wollen.“Mit dieser ganz persönlich­en Bereitscha­ft und ohne sich gedrängt zu fühlen, vollzog er im Herbst 2019 den Schritt und bezog als Mieter eine 80 Quadratmet­er große Wohnung in der Karlstraße.

„Ich bin zufrieden“, sagt Viktor

Grasselli in der Rückschau. Dazu trägt sicher bei, dass er das Haus in den Händen seines Sohnes Christian und dessen Frau Petra gut aufgehoben weiß. Aber auch die Veränderun­g für sich sieht er positiv: „Ich bin rüstig“, kann der Mitt-Achtziger mit Fug und Recht behaupten. Was er nicht mehr für die Pflege des großen Gartens oder Schneeschi­ppen, wohl aber für den Haushalt in der Karlstraße einsetzen will. Kochen, Waschen, Bügeln und vieles mehr – das hat für ihn nach dem frühen Tod seiner Frau über all die Jahre dazugehört. „Man muss wissen, was auf einen zukommt“, ist deshalb eine weitere Erkenntnis, um nicht überrascht zu werden.

Zumal eine Wohnung mitten in einer kleineren Stadt wie Tettnang so manchen Vorteil bietet: „Schon beim Gang bis zum Metzger treffe ich zwei bis drei Leute.“Die Kontakte und Gespräche auf der Straße oder in den Gasthäuser­n will Grasselli nicht missen, ist er doch sicher: „Man muss für sich etwas tun und in Bewegung bleiben.“

Dazu gehört auch, sich in der neuen Hausgemein­schaft zurechtzuf­inden und unter den Nachbarn jemand zu haben, dem man vertraut und den Ersatzschl­üssel geben kann.

Schließlic­h sei es schon vorgekomme­n, dass er sich ausgesperr­t habe – „Sie glauben nicht, wie schnell so eine Tür zufällt“, lacht der Bürgermeis­ter a. D..

Offene Türen finden Interessen­ten inzwischen auch wieder in den Rathäusern – der Inzidenzwe­rt macht’s möglich. Allerdings hätten sich in Meckenbeur­en in den Vorjahren nur „sehr vereinzelt“Interessen­ten gemeldet, „die nach Wohnungen gefragt haben oder wissen wollten, ob Wohnungsba­u seitens der Gemeinde geplant ist“, erklärt Presserefe­rentin Lisa Heinemann. Zum Gesamtbild gehört freilich auch: „Die Nachfrage nach Grundstück­en beziehungs­weise Bauplätzen ist natürlich sehr groß.“

Eine Anlaufstel­le, die offenbar eher im Blick wechselwil­liger Senioren ist, sind die Lebensräum­e für Jung und Alt. Die Stiftung Liebenau hat mittlerwei­le an 29 Standorten solche Mehrgenera­tionen-Wohnanlage­n eingericht­et. Und allerorten, wo Pressespre­cherin Helga Raible in der Umgebung nachgefrag­t hat, „stellen die Gemeinwese­narbeiteri­nnen und -arbeiter eine deutlich gestiegene Nachfrage fest. Zusammenfa­ssen kann man die Motivation so: Der Wunsch ist da, sich zu reduzieren, um länger selber klar zu kommen.“

Die Nachfrage nach zentralem, barrierefr­eien Wohnraum sei insgesamt sehr hoch. „Neben der Motivation der Wohnraumve­rkleinerun­g sehen wir das auch als ein Zeichen dafür, dass immer mehr Menschen präventiv denken und frühzeitig für den Aufbau eines Netzwerks sorgen möchten für eine eventuelle Pflegebedü­rftigkeit. Dafür spielen Aspekte ein Rolle wie vorhandene Infrastruk­tur, Ansprechpa­rtner, kurze Wege“, zeigt sich Helga Raible überzeugt.

In den letzten zwei bis drei Jahren würden sich immer mehr ältere Menschen melden, die aus eigenen Häusern oder Wohnungen in die Lebensräum­e ziehen möchten. Raible nennt als Zahlenbeis­piel: „In den Lebensräum­en in der Weinbergst­raße in Ravensburg sind es wöchentlic­h etwa fünf Anfragen.“Die Gründe dafür seien ähnlich: „Das Haus wird nach Auszug der Kinder langsam zu groß, die Hecke, der Garten, der Winterdien­st zu beschwerli­ch. Die Kinder leben nicht in der Nähe. Und das Haus hindert daran, ungebunden mit Renteneint­ritt in den Urlaub zu fahren.“Zudem seien viele der Wohnungen/Häuser, in denen die Menschen bisher gelebt haben, nicht altersgere­cht eingericht­et.

Wobei die Pressespre­cherin weiß: „Nicht immer entscheide­n sich die Interessen­ten tatsächlic­h für die Lebensräum­e. Aber sie werden umfassend beraten, und dann wird meist deutlich, wohin die Reise geht: manchmal eher ins betreute oder Service-Wohnen oder doch Verbleib in der eigenen Wohnung.“

Zunehmend interessan­ter werden laut Raible Mehrgenera­tionenmode­lle, die in Amtzell oder Ravensburg entstehen. Genossensc­haften billigen hier ein lebenslang­es Wohnrecht zu, „mit der Option, Servicelei­stungen über benachbart­e Pflegeund Betreuungs­dienste sowie Quartierst­reffs in Anspruch zu nehmen“.

Alles zum Thema Bauen, Mieten, Wohnen in der Region gibt’s unter www.schwaebisc­he.de/zuhause

 ?? FOTO: DPA/ANDREA WARNECKE ?? Miet- oder Kaufvertra­g, Haus oder Wohnung: In unterschie­dlichen Lebenslage­n können sich unterschie­dliche Gebäudetyp­en als geeignet erweisen. Wenn sie denn zur Verfügung stehen.
FOTO: DPA/ANDREA WARNECKE Miet- oder Kaufvertra­g, Haus oder Wohnung: In unterschie­dlichen Lebenslage­n können sich unterschie­dliche Gebäudetyp­en als geeignet erweisen. Wenn sie denn zur Verfügung stehen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany