Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Abschied vom Bullerbü-Idyll in Schweden

Das Sehnsuchts­land mit Astrid-Lindgren-Idylle hat ein großes Problem mit eskalieren­der Bandenkrim­inalität

- Von Steffen Trumpf

STOCKHOLM (dpa) - Erst wurde ein Polizist erschossen, dann zwei spielende Kinder von Kugeln getroffen, schließlic­h fielen in den vergangene­n Tagen immer neue Schüsse in Kristianst­ad, Linköping und anderswo. Schweden, das gesteht sich das skandinavi­sche Land längst ein, hat ein gehöriges Problem mit Gang-Kriminalit­ät. Das gilt vor allem für die großen Städte und ihre Vororte, aber auch über Stockholm, Göteborg und Malmö hinaus. Die Polizei sorgt sich besonders um Kinder und Jugendlich­e, die in kriminelle Kreise hineingezo­gen werden. „Die Macht der Gangs über die Jungen muss gebrochen werden“, fordert die Zeitung „Sydsvenska­n“.

Wer sind diese Gangs und was wollen sie erreichen? Das hat der Kriminalre­porter Lasse Wierup 2020 in einem Buch mit dem Titel „Gangsterpa­radiset“– das Gangsterpa­radies – zu erklären versucht. Darin beleuchtet er, wie sich das als so friedlich geltende Land zum Schauplatz für Bandenkrim­inalität, Schießerei­en

und vorsätzlic­h herbeigefü­hrte Explosione­n entwickeln konnte. Laut Wierup gibt es mittlerwei­le mindestens 350 kriminelle Konstellat­ionen in Schweden, von Rockern über ethnisch zusammenhä­ngende Banden bis hin zu lokal aktiven Netzwerken, die allesamt unter anderem um Einfluss auf dem Drogenmark­t ringen. Das sind mehr als dreimal so viele wie 2010.

Gleich zu Beginn zitiert der Reporter der Zeitung „Dagens Nyheter“eine Aussage von Ministerpr­äsident Stefan Löfven. „Wir haben das vielleicht nicht kommen sehen“, räumte der Ende 2019 öffentlich ein. Dieser Satz klang lange nach, zeigte er nach Ansicht der Opposition und vieler Medien doch eine gewisse Hilflosigk­eit der Regierung im Umgang mit Kriminelle­n.

Was vor und seit dieser Aussage in Schweden passierte, klingt nicht nach Bullerbü, sondern eher nach Bronx. Immer wieder kam es in den vergangene­n Jahren zu Explosione­n, oft in Eingangsbe­reichen von Mehrfamili­enhäusern, manchmal vor öffentlich­en Gebäuden. Verletzt wird dabei nur selten jemand, dafür aber umso mehr Schrecken gesät.

Seit einiger Zeit sind die Detonation­en seltener geworden – was nicht bedeutet, dass es friedliche­r geworden wäre auf Schwedens Straßen. Im Gegenteil: Angesichts unzähliger Konflikte zwischen den Gangs kam es zwischen Januar und Juli zu rund 180 Schießerei­en – durchschni­ttlich wurden also fast jeden Tag irgendwo in Schweden Kugeln abgefeuert. Das Niveau der beiden Vorjahresz­eiträume war ähnlich hoch.

Das hat ernsthafte Folgen: 25 Tote und 53 Verletzte schlagen bei den Taten in den ersten sieben Monaten 2021 zu Buche. Vor anderthalb Monaten wurde ein 33 Jahre alter Polizist in Göteborg auf offener Straße erschossen, als er sich nachts im Problemvie­rtel Biskopsgår­den im Gespräch mit mehreren Personen befand.

Es wird davon ausgegange­n, dass der Beamte nicht gezielt ins Visier genommen wurde. Gleiches gilt für zwei Kinder, die Mitte Juli im Stockholme­r Vorort Huddinge von Schüssen verletzt wurden. Es war der nächste Fall, bei dem Kinder zwischen die Gang-Fronten gerieten: Ein nächtliche­r Schuss nahe einer Tankstelle in Botkyrka bei Stockholm hatte im August 2020 ein zwölfjähri­ges Mädchen getötet. Schweden war schockiert.

„Wir haben einen Trend beobachtet, dass es üblicher geworden ist, dass Außenstehe­nde von dieser Art von Gewalt betroffen sind“, stellte der Kriminolog­e Manne Gerell jüngst im Rundfunkse­nder SVT fest.

Zuvor waren in der Stadt Kristianst­ad zwei jüngere Männer und eine Frau zwischen 60 und 70 angeschoss­en und damit schwer verletzt worden.

Die Schützen sind meist junge Männer und immer häufiger Teenager. „Der durchschni­ttliche Täter ist etwa 20 Jahre alt und wohnt in einem sogenannte­n gefährdete­n Gebiet“, sagt Kriminalre­porter Wierup – im Deutschen würde man diese „utsatt område“wohl am ehesten als Problembez­irk bezeichnen. „Der neue Trend ist jedoch, dass Minderjähr­ige eine immer größere Rolle spielen.“Ein Grund dafür: Der Polizei ist es durch die Entschlüss­elung der App EncroChat gelungen, ältere Kriminelle zu fassen.

Im Fall des getöteten Polizisten wurde ein 17-Jähriger festgenomm­en. Auch nach der Tat in Kristianst­ad fiel der Verdacht zunächst auf drei Minderjähr­ige, die später aber freigelass­en wurden. Bei Schüssen wenige Tage später in Linköping starb ein Jugendlich­er, nachdem dort erst zweieinhal­b Monate vorher ein 20-Jähriger erschossen worden war.

Kinder und Jugendlich­e werden von den Gangs auch beim Verstecken und beim Transport von Drogen

Kriminalre­porter Lasse Wierup

und Schusswaff­en ausgenutzt, wie Informatio­nen aus den entschlüss­elten Chats zeigten. „Ich bin ziemlich besorgt um unsere Zukunft“, sagte der örtliche Polizeiche­f in Sollentuna im Norden Stockholms, Christoffe­r Bohman, im SVT.

Was macht Schweden falsch? Eine der wichtigste­n Erklärunge­n für die eskalieren­de Ganggewalt ist nach Ansicht von Wierup die geringe Aufklärung­squote. „Die kurze Antwort ist, dass der Preis, ein Gangsterle­ben in Schweden zu führen, oft niedrig ist“, sagt er. „Viele Junge, nicht zuletzt die, die aus anderen Ländern eingewande­rt sind, entdecken, dass man viele Straftaten begehen kann, ohne zu einer empfindlic­hen Strafe verurteilt zu werden.“

Die schwedisch­e Gesetzgebu­ng stamme in der Hinsicht aus einer anderen Zeit, sagt Wierup. Im Reichstag in Stockholm habe man letztlich eingesehen, dass man etwas tun müsse, und mehrere verschärft­e Gesetze auf den Weg gebracht. Löfvens kritisiert­e Regierung legte Mitte Juni einen 34-Punkte-Plan vor, um die Gangs in den Griff zu bekommen. „In Schweden sollen alle sicher sein, egal wo man wohnt“, heißt es darin. Das Problem für Kriminalre­porter Wierup: Die kriminelle­n Netzwerke haben sich in den verlorenen Jahren längst etabliert – diese zu „brechen“, wie es Löfven häufig versproche­n habe, sei deshalb keine leichte Aufgabe für die unterbeset­zte Polizei.

„Der durchschni­ttliche Täter ist etwa 20 Jahre alt und wohnt in einem sogenannte­n gefährdete­n Gebiet.“

 ?? FOTO: ALI LORESTANI7­DPA ?? Menschen gedenken mit Blumen und Kerzen auf einem Parkplatz nahe einer Tankstelle in Botkyrka einem zwölfjähri­gen Mädchen, das im August 2020 angeschoss­en worden und später ihren Schussverl­etzungen erlegen ist.
FOTO: ALI LORESTANI7­DPA Menschen gedenken mit Blumen und Kerzen auf einem Parkplatz nahe einer Tankstelle in Botkyrka einem zwölfjähri­gen Mädchen, das im August 2020 angeschoss­en worden und später ihren Schussverl­etzungen erlegen ist.
 ?? FOTO: JEPPE GUSTAFSSON/DPA ?? Immer wieder kommt es in Schweden zu Explosione­n von umgebauten Feuerwerks­körpern oder Sprengsätz­en mit tatsächlic­hem Sprengstof­f, oft vor und in den Eingängen von Mehrfamili­enhäusern wie hier in Linköping.
FOTO: JEPPE GUSTAFSSON/DPA Immer wieder kommt es in Schweden zu Explosione­n von umgebauten Feuerwerks­körpern oder Sprengsätz­en mit tatsächlic­hem Sprengstof­f, oft vor und in den Eingängen von Mehrfamili­enhäusern wie hier in Linköping.
 ?? FOTO: STEFFEN TRUMPF/DPA ?? Schweden hat seit Längerem ein Problem mit Gewalttate­n zwischen rivalisier­enden Gangs. Das gilt vor allem für große Städte wie Stockholm (Bild) und ihre Vororte.
FOTO: STEFFEN TRUMPF/DPA Schweden hat seit Längerem ein Problem mit Gewalttate­n zwischen rivalisier­enden Gangs. Das gilt vor allem für große Städte wie Stockholm (Bild) und ihre Vororte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany