Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Paragraf 64, die Sucht und die Flucht
ZWIEFALTEN - Als er zum Messer griff, war Christian Schulze (Name von der Redaktion geändert) schwer alkoholisiert. Und pleite. Um Geld für mehr Alkohol zu bekommen, ging er in einen Friseursalon und überfiel die Besitzerin. 400 Euro Beute nahm er an diesem Tag im November 2018 mit. Einen Monat später klingelte die Polizei an seiner Wohnung im Landkreis Ravensburg, die Beamten hatten den vorbestraften Täter über eine DNA-Spur identifiziert. Der heute 37-Jährige gestand die Tat sofort, er erhielt eine Haftstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten. Ein Gutachter stellte eine Alkoholabhängigkeit fest.
Auch Thomas Klausel (Name ebenfalls geändert) brauchte dringend Geld. Mit drei weiteren Männern überfiel der heute 25-Jährige aus dem Landkreis Böblingen einen Betrunkenen, von dem die Angreifer glaubten, er habe mehrere große Geldscheine im Portemonnaie. Amphetamine, Alkohol, Marihuana, Kokain, Ecstasy – alles hatte Thomas Klausel an jenem Abend im Oktober 2018 zu sich genommen. Als der Angegriffene um Hilfe rief, schlug Klausel zu. Hinterher stellte sich heraus: Was einer der Angreifer als Geldscheine erkannt zu haben glaubte, waren in Wirklichkeit Sanifair-Gutscheine. Das Opfer hatte lediglich 15 Euro dabei. Thomas Klausel wurde zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt.
Zwei Kriminalfälle, die einige Gemeinsamkeiten aufweisen. Beide Männer wurden nicht zum ersten Mal straffällig. Beide standen zum Tatzeitpunkt unter dem Einfluss von Suchtmitteln. Beide kamen erst ins Gefängnis. Und beide absolvieren inzwischen eine Therapie in Zwiefalten (Landkreis Reutlingen). Dort bringt das ZfP Südwürttemberg suchtkranke Straftäter unter, während in den Forensiken in Bad Schussenried und Ravensburg-Weißenau psychisch kranke Straftäter untergebracht werden.
Nun sitzen Schulze und Klausel in einem Besprechungsraum der Klinik, dessen Atmosphäre so nüchtern ist wie die Aussagen der beiden Straftäter zu ihrer kriminellen Karriere, die sich in dem Moment nicht unabhängig prüfen lassen. Beide Männer beteuern ihren Therapiewillen. Was für sie spricht ist, dass sie schon recht lange in der Klinik sind und dabei auch Fortschritte erzielt haben. Sie dürfen jetzt auf dem Klinikgelände ohne Begleitung zum Sozialdienst oder zur Arbeitstherapie gehen. Im Ort Zwiefalten haben sie auch Ausgang, aber nur in Begleitung. Das sind Privilegien, die man nicht einfach so bekommt in der Forensischen Psychiatrie. Auf die die Männer andererseits aber auch Anspruch haben, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen. „Wir sind verpflichtet, ihnen Vollzugslockerungen zu geben, nur so kann Resozialisierung gelingen“, erläutert Monika Zavoianu, die Leiterin der Zwiefaltener Forensik.
Das Problem von Zavoianu und ihren Kollegen: Viele Patienten im Sucht-Maßregelvollzug erfüllen die Voraussetzungen nicht, werden sie nicht erfüllen und wollen es im Grunde auch gar nicht. Sie gehören nicht in die Klinik, sondern in ein ganz gewöhnliches Gefängnis.
Hintergrund ist die Auslegung des Paragrafen 64 im Strafgesetzbuch. Dieser sieht die Einweisung in den Maßregelvollzug vor, wenn eine Straftat unter Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen begangen wurde. Das Problem ist aus Sicht der Kliniken, wie dieser Paragraf in der Praxis umgesetzt wird. Mittlerweile würden den Suchtkliniken im Maßregelvollzug „in größerer Zahl strafrechtlich schuldfähige und damit voll verantwortliche Personen mit hoher krimineller Belastung zugewiesen“, bei denen „keine Abhängigkeitsdiagnose vorliegen muss und bei denen überwiegend der Sicherungsaspekt im Vordergrund steht“, warnte die Facharbeitsgruppe Maßregelvollzug der ZfP-Gruppe BadenWürttemberg in einer Stellungnahme Anfang des Monats. „Der Maßregelvollzug ist eine besonders ressourcenintensive Maßnahme“, erläutert Chefarzt Udo Frank, der bei der ZfP Südwürttemberg für die Forensischen Kliniken zuständig ist. „Er müsste auf Suchtmittelabhängige mit einem bestimmten Schweregrad beschränkt sein.“Dies sei nicht gleichzusetzen mit dem bloßen Konsum und auch nicht mit einem Schäden verursachenden Missbrauch von Alkohol oder anderen Drogen, sondern deutlich tiefgreifender.
Doch Straftäter setzen vor Gericht viel daran, dass die Justiz bei ihnen ein Suchtproblem feststellt. Das Kalkül: Im Maßregelvollzug ist es allemal angenehmer zu leben als in einem normalen Gefängnis. „Ich habe schon Patienten hier beobachtet, die in meinen Augen überhaupt kein Suchtproblem haben“, bestätigt Christian Schulze, der wegen schweren Raubes verurteilte Alkoholiker. „Man lebt mit denen zusammen. Das merkt man einfach. Wenn einer einmal einen Joint geraucht hat, ist er noch lange kein Abhängiger.“
In der altehrwürdigen ehemaligen Benediktinerabtei Zwiefalten, die im Zuge der Säkularisation 1802 aufgelöst und in der schon zehn Jahre später eine „Königliche Landesirrenanstalt“eingerichtet wurde, muss man seit einigen Jahren einem wahren Ansturm Herr werden. Lag die Zahl der Einweisungen in die Forensik im Jahr 2010 noch bei 79, wurden für 2020 schon 128 Neueinweisungen registriert. Damit liegt die Zwiefaltener Forensik im Landestrend, wie Zahlen aus dem Sozialministerium belegen. Um Platz für Patienten zu schaffen, müssen Büros geräumt, Therapiezimmer umgerüstet und Zwei- in Dreibettzimmer verwandelt werden.
Die Folge ist eine steigende Quote von Insassen, die ihre Therapie abbrechen – weil sie von vornherein nicht wirklich interessiert daran waren. „In Baden-Württemberg ist mittlerweile fast jede zweite Entlassung aus der Behandlung nach Paragraf 64 ein Therapieabbruch“, schrieb Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) Anfang Oktober an das Bundesjustizministerium.
Anlass für Luchas Schreiben war der Ausbruch mehrerer Straftäter aus einer anderen Maßregelvollzugsanstalt, der Klinik am Weissenhof (Landkreis Heilbronn), die zum ZfP Weinsberg gehört, Ende September. Die vier Männer seilten sich mithilfe zusammengeknoteter Bettlaken aus einem Fenster ab. Alle galten als gefährlich. Einer wurde schnell wieder aufgegriffen, zwei weitere mithilfe von Zielfahndern des Landeskriminalamts in Barcelona gefasst. Der vierte ist noch auf der Flucht. Die Männer waren Therapieabbrecher, sie alle hätten demnächst ins Gefängnis zurückverlegt werden sollen.
Ebenfalls auf der Flucht ist ein 40Jähriger, der kurz nach den anderen vier Männern aus der Weinsberger Psychiatrie geflohen war. Er war allerdings auf einer Station untergebracht, die nicht rund um die Uhr geschlossen ist. Daher sprechen Fachleute von einer „Entweichung“, nicht von einem „Ausbruch“. Verschwunden ist aber auch er.
Sozialminister Lucha steht also unter Druck, neue Plätze in der Forensik
zu schaffen – was allerdings sogar innerhalb des Kabinetts zu Verstimmungen geführt hat. Anlass ist ein leer stehender Komplex namens „Fauler Pelz“in der Heidelberger Altstadt. Lucha würde das Gebäude, ein ehemaliges Gefängnis in bester Innenstadtlage, zumindest zeitweise gern für die Forensik nutzen. Dagegen hat sich nicht nur der Heidelberger Oberbürgermeister Eckart Würzner (parteilos) ausgesprochen, sondern auch Luchas Parteifreundin und Kabinettskollegin Theresia Bauer. Die Wissenschaftsministerin, die zudem Abgeordnete für Heidelberg ist, will das Gebäude für die Ruprecht-Karls-Universität sichern. Die von Lucha angedachte Übergangsnutzung für die Forensik sei nicht realistisch. „Es macht keinen
Christian Schulze, Patient in der Forensischen Psychiatrie Zwiefalten
Sinn, einen solchen Aufwand zu treiben, um dann in drei Jahren das Gebäude wieder zu räumen für die Universität“, argumentierte Bauer.
Dass sich zwei Minister, die auch noch derselben Partei angehören, öffentlich streiten, war für die Opposition ein gefundenes Fressen. „Luchas Vorschlag ist so schlecht, dass selbst im Kabinett Kritik laut wird“, lästerte der FDP-Gesundheitspolitiker Jochen Haußmann. An diesem Montag kam das Thema im Sozialausschuss des Landtags auf die Tagesordnung. Doch für die Änderung des Paragrafen 64 ist der Bund zuständig. Da es dieses Problem nicht nur im Südwesten gibt, arbeitet eine Arbeitsgruppe aus Bund und Ländern daran, dessen Wortlaut neu zu fassen. Danach folgt der Gesetzgebungsprozess, und wie lange der dauert, ist offen.
Zentral ist nach Ansicht von Fachleuten, dass dabei Fehlanreize der aktuellen Rechtsprechung ausgemerzt werden. Dabei geht es um das sogenannte Halbstrafenprivileg. Es besagt, dass Patienten, wenn die Therapie erfolgreich ist, schon nach der Hälfte der Zeit entlassen werden können. Bei Gefängnisinsassen ist dies erst der Fall, wenn sie zwei Drittel der Strafe abgesessen haben. Da die Therapie allerdings auf jeden Fall eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, lohnt sich der Versuch in den Maßregelvollzug zu kommen statt ins Gefängnis, vor allem für Menschen, die zu einer hohen Haftstrafe verurteilt wurden. „Bis zu zwei Jahren Haftstrafe will keiner den 64er, über zwei Jahren Haft wollen ihn viele“, erklärt Forensik-Chef Udo Frank die Faustregel unter Angeklagten.
Inzwischen gibt es auf der Videoplattform YouTube regelrechte Tutorials, die Angeklagte darin schulen, wie man den Richter am besten davon überzeugt, alkohol- oder drogenabhängig zu sein. Auch Strafverteidiger raten ihren Klienten diesen Weg zu gehen, der allerdings nicht ohne Risiko ist. Denn bricht ein Eingewiesener später doch die Therapie ab, hat dies eine schlechte Kriminalprognose zur Folge, die auch im regulären Justizvollzug eine Entlassung nach zwei Dritteln der Haftstrafe unwahrscheinlich macht, wie Forensiker Frank erläutert. So weit würden viele Delinquenten allerdings gar nicht denken.
Das Vorgehen der Angeklagten und ihrer Anwälte wird von einer für sie günstigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs mitbestimmt. Die Frage ist dabei, wie der im Gesetzestext genannte „Hang zum Übermaß“an Suchtmittelkonsum definiert wird. Laut Juristen ist dies schon dann der Fall, wenn jemand „sozial gefährdet oder sozial gefährlich“sei, zitiert die Zwiefaltener Forensik-Leiterin Zavoianu die höchstrichterliche Rechtsprechung. „Vom medizinischen Begriff der Abhängigkeit bleibt da nicht viel übrig.“
Die Zwiefaltener Forensik-Patienten Christian Schulze und Thomas Klausel dagegen sind überzeugt, dass der Maßregelvollzug ihnen eine Chance gibt, die sie im Gefängnis nicht bekommen hätten.
Schulze will bald die Erlaubnis erhalten, tagsüber allein die Klinik zu verlassen. Er möchte Arbeit finden und den Kontakt zu seinen Töchtern wieder aufbauen. Sie sind 15, fünf und zweieinhalb Jahre alt.
Thomas Klausel sagt, er wolle Abitur machen und dann etwas mit Informatik. „Ich denke, ich schaffe es, abstinent zu bleiben. Denn wenn ich rückfällig werde, bringt mich das direkt weg von diesem Ziel.“
Viele Verurteilte versuchen, als Suchtkranke einer Haftstrafe im Gefängnis zu entgehen – Die Zentren für Psychiatrie sind überfüllt, und immer
wieder entkommenen Insassen
„Ich habe schon Patienten hier beobachtet, die in meinen Augen überhaupt kein Suchtproblem haben.“
Ein Interview mit dem Kriminologen und Psychologen Achim Ringel, therapeutischer Leiter der Aufnahmeund Krisenstation der Forensik in Zwiefalten, sehen Sie unter: www.schwaebische.de/ zwiefalten