Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Fronten zwischen EU und Polen verhärtet
Von der Leyen fordert Warschau erneut zur Einhaltung der Verträge auf
BRÜSSEL - Es lebe Polen! Es lebe Europa! Zumindest in diesen Rufen am Ende ihrer jeweiligen Rede waren sich Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestern im Europaparlament in Straßburg vollkommen einig. Auch beschworen beide Polens demokratische Tradition und die Bedeutung der Solidarnosc beim Überwinden der kommunistischen Diktatur und der Spaltung Europas. Doch das war es dann mit den Gemeinsamkeiten.
In zehn knappen Minuten legte die Chefin der EU-Kommission dar, welche Möglichkeiten der EU offenstehen, nachdem das polnische Verfassungsgericht die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs in Rechtsstaatsfragen nicht anerkennt. Man könne ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, da das Urteil nicht den Verträgen entspreche, die Polen bei seinem EU-Beitritt als Grundlage akzeptierte. Eine zweite Möglichkeit sei es, den Rechtsstaatsmechanismus und „andere Finanzinstrumente“zu nutzen, also Polen die EU-Mittel zu kürzen.
Schließlich könne das laufende Artikel-Sieben-Verfahren weiter betrieben werden. An dessen Ende könnte Polen zumindets vorrübergehend bestimmte Mitgliedsrechte verlieren, weil es aus Sicht der EU gegen Grundwerte der Union verstößt. „Erinnern wir uns: Eben jenes polnische Verfassungsgericht, das die Gültigkeit unserer Verträge in Zweifel
zieht, ist Gegenstand eines Artikel-Sieben-Verfahrens, weil wir es nicht als unabhängig und legitim betrachten. Hier schließt sich der Kreis“, so von der Leyen.
Es folgte der deutlich längere Konter von Polens Regierungschef. Statt argumentativ einen Kreis zu schließen, führte Morawiecki seine Zuhörer eher in die Endlosschleife, als er darlegte, dass ein Urteil des nationalen obersten Gerichts eben deshalb dem EU-Recht übergeordnet sei, weil es sich um das oberste Gericht handele. Er zitierte aus Rechtsgutachten, die diese Sichtweise unterstützen und sich auf oberste Gerichte in Frankreich, Italien und Deutschland beziehen. Daran zeige sich, dass Polen und andere osteuropäische Länder gegenüber den Gründungsstaaten
diskriminiert und in ihren Rechten beschnitten würden.
Auch Morawiecki beschwor den Kampf seiner Landsleute für Demokratie, der sich aber gerade im überwältigenden Votum für die PiS-Partei fortsetze. Die sei durch eine absolute Mehrheit der Wähler legitimiert – im Gegensatz zu den „Politiker-Beamten“in Brüssel. Polen wünscht sich einen starken Binnenmarkt, der durch die Grundfreiheiten prsosperiert - also den Waren- und Kapitalverkehr, aber vor allem auch die freie Wahl des Arbeitsplatzes im ganzen Unionsgebiet. Die gemeinsame Verteidigung solle gestärkt und entsprechende Ausgaben getätigt werden.
Allein die Zustimmungswerte zur EU in Polen – 89 Prozent im Gegensatz zu 39 Prozent in Frankreich – zeigten, wie wichtig Polen für die Gemeinschaft sei. An der Grenze zu Weißrussland schütze man die gesamte Union gegen Migration.
Mit dem Ruf: „Es lebe die Europäische Union souveräner Staaten!“endete der polnische Regierungschef seine Rede – bejubelt von den eigenen Abgeordneten und Euroskeptikern aus anderen Mitgliedsländern. Das zeigt zweierlei: Auch im Parlament wird Polens Kritik an der Brüsseler Übergriffigkeit von vielen geteilt. Und: Schnittmengen zwischen dem ganzheitlichen Anspruch der EU-Kommission und dem polnischen Wunsch, die EU zu einem losen Staatenbund mit gemeinsamen ökonomischen und militärischen Interessen zurückzuentwickeln, gibt es nicht.