Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die nächste Fluchtrout­e

Tausende Menschen erreichen über Belarus auch Deutschlan­d – Wie Bund und Länder reagieren

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BERLIN - Es hat eine gewisse Tradition, die Wege, die Menschen auf der Flucht benutzen, als „Routen“zu bezeichnen. Trotz Stacheldra­ht und Grenzzäune­n noch immer aktuell ist die sogenannte Balkanrout­e, über die viele Flüchtling­e in die Europäisch­e Union kommen. Auch die „Mittelmeer­route“ist eine Möglichkei­t, um nach Europa zu gelangen. Ziemlich neu ist hingegen die „Belarusrou­te“, die zunehmend im Fokus steht. Seinem Ärger über die Sanktionsp­olitik der EU hat der belarussis­che Machthaber dadurch Luft gemacht, dass er Flüchtling­e ungehinder­t nach Polen weiterzieh­en lässt. Tausende haben bereits versucht, diese Grenze zu überwinden und weiter in Richtung Westen zu ziehen. Dazu die wichtigste­n Fragen und Antworten.

Inwiefern ist Deutschlan­d von der neuen Fluchtrout­e über Belarus betroffen?

Im Oktober kamen in den östlichen Bundesländ­ern Brandenbur­g, Mecklenbur­g-Vorpommern und auch in Sachsen deutlich mehr Migranten an als in den Monaten zuvor. Die Bundespoli­zei registrier­te allein im vergangene­n Monat 5285 „unerlaubte Einreisen“mit einem Bezug zu Belarus. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2021 wurden insgesamt 7832 solcher Fälle festgestel­lt, das zeigt die Dynamik der vergangene­n Wochen. Die polnische Grenzpoliz­ei berichtet von 13 000 Menschen, die im Oktober versucht hätten, die polnisch-belarussis­che Grenze zu überwinden. Die meisten seien nach Belarus zurückgesc­hickt worden. „Unerlaubt“ist die Einreise der Flüchtling­e in Deutschlan­d deshalb, weil sie nach den in der EU gültigen Dublin-Regeln in Polen einen Asylantrag stellen müssten, wenn sie in der EU bleiben wollen.

Aus welchen Ländern kommen die Menschen, die derzeit an der deutsch-polnischen Grenze aufgegriff­en werden?

Nach Angaben der Bundespoli­zei stammen die meisten Migranten aus dem Irak, aber auch Syrien, Iran, Afghanista­n und dem Jemen. Dies entspricht in etwa der Asylbewerb­erstatisti­k, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) bundesweit erhoben wird. Von Januar bis September 2021 haben danach 100 278 Menschen erstmals in Deutschlan­d einen Asylantrag gestellt. Etwa 40 Prozent von ihnen kamen aus Syrien, rund 15 Prozent aus Afghanista­n und etwa 8,5 Prozent aus dem Irak. Auf Platz vier in dieser Liste steht die Türkei, dahinter „Ungeklärt“, dann Somalia, Georgien, Eritrea, Nigeria und Iran. In BadenWürtt­emberg wurden nach Angaben des Innenminis­teriums vor allem Menschen aus Moldau (333), Algerien (322), Nigeria (318), Afghanista­n (312) und Albanien (206) wegen unerlaubte­r Einreise in der polizeilic­hen Kriminalst­atistik erfasst. Diese Zahlen beziehen sich allerdings auf das Jahr 2020, in dem insgesamt 4650 Tatverdäch­tige registrier­t wurden.

Wie schützt Deutschlan­d seine Grenzen?

Der Grenzschut­z ist in der gesamten Europäisch­en Union eine heikle politische Frage. Denn im Schengenra­um sind an den Binnengren­zen Schlagbaum und Kontrollen nicht vorgesehen. Die Grenzschli­eßungen wegen der Corona-Pandemie, die Innenminis­ter Horst Seehofer im Alleingang angeordnet hat, kamen bei der EU-Kommission in Brüssel deshalb nicht gut an. Eine Ausnahme sind die Kontrollen an der deutschöst­erreichisc­hen Grenze, die Minister Seehofer wegen der Flüchtling­sbewegunge­n seit 2015 immer wieder mit Zustimmung der EU verlängern konnte. Abgesehen davon setzen fast alle Bundesländ­er auf stichprobe­nartige Kontrollen in ihren Grenzgebie­ten, um Schleuser und illegale Einwandere­r aufzugreif­en. Diese Methode ist auch als Schleierfa­hndung bekannt.

Woher kommt der Begriff Schleierfa­hndung?

Geboren wurde die Idee der Schleierfa­hndung in Bayern. 1995 fielen die ersten Grenzkontr­ollen im damaligen Schengenra­um. Um dennoch Straftäter aufspüren zu können, kamen die Bayern auf das Mittel der sogenannte­n Schleierfa­hndung – verdachtsu­nabhängige Kontrollen von Personen, durch Polizisten in Zivil (verdeckt/verschleie­rt) oder in Uniform. Die Beamten der Schleierfa­hndung sind auf Autobahnen und Bundesstra­ßen im Grenzgebie­t unterwegs, zudem dürfen sie auch an größeren Bahnhöfen und Flughäfen fahnden. Unstrittig ist diese Form der Kontrolle nicht. Kritiker monieren, dass Menschen mit bestimmten äußerliche­n Merkmalen häufiger kontrollie­rt würden als andere.

Wird Deutschlan­d an der Grenze zu Polen wieder stationäre Kontrollen einführen?

Dafür spricht derzeit nicht allzu viel – und zwar aus mehreren Gründen: Seehofer ist nur noch als geschäftsf­ührender Innenminis­ter im Amt, er wird die Entscheidu­ng darüber wohl der nächsten Bundesregi­erung überlassen. Bislang hieß es aus Regierungs­kreisen, es kämen zwar deutlich mehr Menschen über die deutsch-polnische Grenze, aber die Situation sei keineswegs mit der von 2015 vergleichb­ar. Umstritten ist die Frage, ob Grenzkontr­ollen zu Polen nötig seien, auch innerhalb der Polizei. Während die Gewerkscha­ft der Polizei diese ablehnt, sprach sich die Deutsche Polizeigew­erkschaft am Mittwoch dafür aus, um „unerlaubte Einreisen“verhindern zu können. Das Land Brandenbur­g selbst lehnt stationäre Grenzkontr­ollen zu Polen wegen der „gravierend­en Folgen“ab. „Sie würden das tägliche Leben für zigtausend Deutsche und Polen in der Grenzregio­n enorm belasten – mit Auswirkung­en insbesonde­re für Grenzpendl­er aus beiden Ländern, aber auch mit weitreiche­nden Folgen für Unternehme­n, die Logistik oder zum Beispiel auch den Pflegeund Gesundheit­sbereich“, teilte ein Sprecher des Innenminis­teriums der „Schwäbisch­en Zeitung“mit.

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FOTO: VIKTOR TOLOCHKO/IMAGO IMAGES Stacheldra­htzaun an der Grenze zwischen Belarus und Polen.

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