Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Grellbuntes Spektakel
Paul Dessaus „Die Verurteilung des Lukullus“begeistert an der Staatsoper Stuttgart
STUTTGART - Genau 70 Jahre nach ihrer Uraufführung in Ost-Berlin wird Paul Dessaus Oper „Die Verurteilung des Lukullus“nun an der Stuttgarter Staatsoper gespielt. Das Musiktheaterkollektiv „Hauen und Stechen“präsentiert die eigenwillige Vertonung eines „Radiostücks“von Bertolt Brecht als grellbunte Show. Gerhard Siegel in der Titelrolle und das vielköpfige Gesangsensemble bieten vokale Glanzleistungen ganz im Sinne von Dessau. Der betagte Dirigent Bernhard Kontarsky, der an diesem Haus jahrzehntelang immer wieder modernes Repertoire übernommen hat, manövriert den Kinderchor und den Chor ebenso wie das Staatsorchester Stuttgart souverän durch die Partitur.
Bei der Premiere durften erstmals seit Pandemie-Beginn wieder alle Plätze im Littmann-Bau besetzt werden. Voraussetzung dafür war die 3G-Regel, Registrierung der Kontaktdaten und Maskenpflicht auch während der Vorstellung. Bevor allerdings mit 20 Minuten Verspätung endlich begonnen werden konnte, gab es an den Kartenschaltern lange Schlangen. An Einhaltung des vorgeschriebenen Abstands war da nicht zu denken. Offenbar hatte man nach längerer Reduktion des Betriebs organisatorische Probleme mit der
Rückkehr zu normalen Abläufen. Um so routinierter ging dann die Vorstellung von Dessaus Brecht-Vertonung über die Bühne.
Was hat es auf sich mit dem Titelhelden dieser Oper? Gibt man das Stichwort „Lukullus“in eine Suchmaschine ein, dann poppen Werbeanzeigen für Feinkostprodukte auf. Auch für eine Süßspeise und sogar für Premium-Hundefutter muss der Name herhalten. Wer ihm historisch auf den Grund geht, stößt auf den römischen Feldherrn Lucius Licinius Lucullus, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert Gebiete in Kleinasien für das Imperium erobert hat. Außerdem soll er sagenhafte Reichtümer und eine wohlschmeckende Kirschsorte nach Rom gebracht haben. Die Nachwelt hat ihn freilich kaum wegen militärischer Erfolge, sondern eher als Gourmet und Gastgeber üppiger Bankette im Gedächtnis behalten.
Vermutlich just deshalb erkor Brecht den antiken Feinschmecker 1939 zur Hauptperson jenes antimilitaristischen „Radiostücks“, das er im schwedischen Exil unter dem Titel „Das Verhör des Lukullus“als Reaktion auf den deutschen Einmarsch in Polen schrieb. Nach dem Krieg änderte er auf Dessaus Betreiben den ursprünglich offenen Schluss. Die Opernfassung hieß nun „Die Verurteilung des Lukullus“. Trotz heftiger ideologischer Einwände von SEDFunktionären wurde sie 1951 in OstBerlin aus der Taufe gehoben.
Die Stuttgarter Inszenierung von Franziska Kronfoth und Julia Lwowski setzt auf eine vielschichtige Collage von Filmeinblendungen und gleichzeitig ablaufenden Vorgängen an verschiedenen Stellen der Bühne. Durch offene Saaltüren bekommt man anfangs mit, wie draußen lautstark der Trauerzug für den verblichenen Lukullus vorbeizieht. Per Live-Kamera (Martin Mallon) werden Bilder davon in den Innenraum übertragen. Die gruseligen Gestalten könnten einer Halloween-Parade alle Ehre machen. Schrilles Geheul bezahlter Klageweiber ertönt. Arbeiter und Bauern im Mao-Look (Kostüme: Yassu Yabara), eine Hyäne mit abgemurkster Friedenstaube im Maul, der aufgebahrte Feldherr mit Plüschpantoffeln und affig tänzelnde Dreigroschenhuren entern die Bühne (Christina Schmitt).
Dessaus Oper zielt auf die Verurteilung Mächtiger durch ihre Opfer. Geschichte soll nicht von den Siegern, sondern von den Besiegten geschrieben werden. In der jungen DDR wurde das Verfahren, dem sich Lukullus hier im Totenreich stellen muss, als Anspielung auf die Nürnberger Prozesse gedeutet. Aus heutiger Sicht stellen sich auch Assoziationen an Stalins Schauprozesse oder an die chinesische Kulturrevolution ein. In Stuttgart wird dies thematisiert durch Bilder von der Demontage eines Lenin-Standbilds oder von zerbombten Städten. Frauen stecken Rosen in Gewehrläufe und werden abgeführt von Soldaten. Insgesamt aber kann die kryptisch überladene Inszenierung weder inhaltliche Monotonien des Stücks konterkarieren noch von öder Rezitationsmelodik der gezielt emotionsarmen Musik ablenken.
Um so berührender sind ariose Momente wie die von Maria Theresa Ullrich eindrücklich gesungene Klage des Fischweibs über den Tod ihres Sohnes oder die sphärisch hohen Vokalisen der Königin (Alina Adamski). Auch Torsten Hofmann (Koch), Elliott Carlton Hines (Kirschbaumträger), Simon Bailey (Totenrichter), Heinz Göhrig (Bäcker) und nicht zuletzt Cheryl Studer als alte Frau tragen zu einer hochkarätigen Aufführung bei. Gerhard Siegel nimmt als lächerlicher Lukullus paradoxerweise mit sympathischer Stimme für sich ein. Hinter der Szene darf er sich zwischendurch ein Bierchen gönnen. Die Webcam sieht alles.
Weitere Vorstellungen: 6., 13., 15. und 20. November. Karten und weitere Termine unter: www.staatsoper-stuttgart.de