Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Digitale Überwachung im Kampf gegen Kinderschänder
EU-Kommission plant Gesetz zur Observation verschlüsselter Kommunikation – Kritik von Datenschützern und Kinderrechtlern
BERLIN - Die grausigen Taten von Wermelskirchen haben gerade erst wieder gezeigt, wie ruchlos Kinderschänder im Internet unterwegs sind. Die EU-Kommission plant ein Gesetz dagegen – und das hat es in sich.
„Regeln zur Verhinderung und Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch” ist die Verordnung betitelt, mit der die sozialdemokratische Innenkommissarin Ylva Johansson aus Schweden quasi alle digitalen Kommunikationsdienste verpflichten will, kinderpornografisches Material oder Kontaktversuche mit Kindern aufzuspüren, zu melden und zu entfernen. Doch anstelle von Lob hagelt es teils vernichtende Kritik für den Vorstoß, nicht nur von Bürgerrechtlern, sondern sogar von Kinderschützern. Von „Stasi 2.0“und anlassloser Massenüberwachung ist die Rede. Wie konnte es dazu kommen?
Johansson will, dass Onlinedienste wie WhatsApp oder auch E-MailAnbieter sämtliche Nachrichten ihrer Nutzer daraufhin untersuchen, ob verbotenes Bildmaterial geteilt wird. Auch die unerlaubte Ansprache von Kindern soll erkannt werden, was bedeutet, dass auch Textnachrichten kontrolliert werden müssten. Der EU-Parlamentarier Patrick Breyer (Piratenpartei) hat daher den Kampfbegriff „Chatkontrolle“ins Feld geführt. Wie diese technisch umgesetzt werden soll, lässt die Kommission zunächst offen. Breyer warnt jedoch: „Chatkontrolle ist, wie wenn die Post alle Ihre Briefe öffnen und scannen würde.“Selbst intimste Nachrichten oder Fotos könnten bei den Behörden landen.
Denn in der Praxis lassen die EUVorgaben keine andere technische Lösung zu, als sämtliche Chats mittels Algorithmen untersuchen zu lassen, entweder beim Hochladen oder Absenden. Das hat zur Folge, dass die gängige Verschlüsselung von Mails oder Chatnachrichten aufgebrochen werden müsste. Denn Nachrichten, die sich Nutzer über Dienste wie WhatsApp zuschicken, sind derart gut geschützt, dass nicht einmal die Unternehmen den Inhalt einsehen können. In der digitalen Welt ist das oft Mindeststandard, da unverschlüsselte Kommunikation vergleichbar mit Postkarten ist: Einigermaßen versierten Hackern, sei es in
Sicherheitsbehörden oder kriminellen Vereinigungen, gelingt es immer wieder, sie einzusehen, wie zahlreiche Leaks beweisen. Vor allem geschützte Berufe wie Anwälte oder Ärzte wären von einer Aufweichung der Verschlüsselung daher besonders betroffen. Dementsprechend entsetzt ist man in der Wissenschaft: „Im Ergebnis“komme man „durch den Gesetzesvorschlag einer Vollüberwachung des digitalen Bürgers deutlich näher, als es bislang jemals der Fall gewesen ist“, warnt der Bremer
Professor für IT-Sicherheit Dennis Kipker stellvertretend für viele seiner Kollegen, die sich ähnlich geäußert haben. Auch der Saarbrücker Professor für Rechtsinformatik Christoph Sorge warnt: „Wenn ein junger Erwachsener seiner Freundin intime Fotos von sich zusendet, muss er damit rechnen, dass diese aufgrund einer fehlerhaften Erkennung durch den Provider an Behörden weitergeleitet werden“, sagt Sorge und fragt: „Wie soll das verhältnismäßig sein?“Selbst wer nur Urlaubsfotos
seiner badenden Kinder im Familienchat teilt, könnte ins Fadenkreuz der Behörden geraten. Dabei kann ein öffentlich gewordener falscher Kindesmissbrauchs-Verdacht bürgerliche und berufliche Existenzen zerstören – egal, ob Gerichte hinterher feststellen, dass es sich um einen Irrtum handelte.
Dass die Kritik nicht unbegründet ist, legen die Zahlen der deutschen Polizeibehörden nahe. So gab es im vergangenen Jahr gut 30 000 Fälle von Verbreitung und Besitz von Kinderpornografie im Internet. Mehr als die Hälfte jedoch, 54 Prozent, stammte nicht von Kriminellen, sondern von Kindern und Jugendlichen selbst. Das größte Problem sind laut Einschätzung von Kriminologen wohl Chatgruppen, in denen Minderjährige illegale Inhalte teilen, ohne wirklich zu wissen, dass sie sich strafbar machen – was wie in Dortmund geschehen zu Ermittlungsverfahren gegen gleich 400 Schülerinnen und Schüler führen kann, nachdem ein 14-Jähriger ein Nacktfoto seiner 13-jährigen Ex-Freundin in einem Klassenchat postete.
Johansson selbst hat bereits deutlich gemacht, dass solche Einwände für sie nachrangig sind und der Fokus für sie „in erster Linie auf dem Schutz der Kinder“liege. Doch ausgerechnet dieses Ziel verfehlt ihr Gesetzesentwurf nach übereinstimmender Einschätzung von Forschern, Bürgerrechtlern und sogar Kinderschützern. „Verschlüsselte Kommunikation spielt bei der Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen kaum eine Rolle“, sagt der Bundesvorstand des Kinderschutzbundes Joachim Türk. Anlasslose Scans seien daher „unverhältnismäßig und nicht zielführend“.
Die in diesem Bereich organisierte Kriminalität spielt sich nämlich nicht in Messengern, sondern in schwer zugänglichen Foren des sogenannten Darknet ab. Experten fordern schon lange, die Polizei zu ertüchtigen, damit sie direkt in den Foren ermitteln kann.
Die EU wäre „besser damit beraten, mehr Ermittlungspersonal einzustellen und die Strafverfolgung in dem Bereich zu verbessern“, fordert auch IT-Experte Kipker. Denn stattdessen lieber gleich alle EU-Bürger komplett zu überwachen ist ein Vorschlag, den man wohl eher aus Peking oder Moskau als aus Brüssel erwartet hätte.