Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Bohrende Fragen und heikle Details im Fall Attendorn
Hätte das jahrelang eingesperrte Mädchen früher befreit werden können ? – Politiker haben unangenehme Fragen
DÜSSELDORF/ATTENDORN (dpa) Der Fall des jahrelang eingesperrten und von der Außenwelt isolierten Mädchens im sauerländischen Attendorn hat im nordrhein-westfälischen Landtag parteiübergreifend Entsetzen ausgelöst. Zugleich wurden am Donnerstag kritische Fragen in Richtung des zuständigen Jugendamts laut. Abgeordnete aus allen Fraktionen wollten wissen, wieso es der Mutter des Kindes gelingen konnte, mit der bloßen Behauptung, ins Ausland verzogen zu sein, jahrelang unbehelligt zu bleiben.
Das Jugendamt hat nach dpa-Informationen im Herbst 2020 erstmals einen mysteriösen Brief erhalten, der auf das heute achtjährige Kind hinwies: Der Text war aus ausgeschnittenen Buchstaben zusammengesetzt und aus Sicht des Mädchens geschrieben.
Es folgten weitere anonyme Schreiben, aber erst zwei Jahre später wurde das Kind befreit. Der zuständige Kreis Olpe hatte vor wenigen Tagen bereits Defizite im Zusammenhang mit dem Fall eingeräumt. Ermittelt wird gegen die Mutter und die Großeltern.
Auch das Jugendamt ist im Visier der Staatsanwaltschaft – wegen des Anfangsverdachts der Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Amt durch Unterlassen. Bereits eine Woche nach der Befreiung des Mädchens hatte die Staatsanwaltschaft beim Jugendamt bereits Akten beschlagnahmt, wurde am Donnerstag bekannt.
Wieso habe das Jugendamt die Behauptung der Mutter, nach Italien weggezogen zu sein, nicht früher überprüft, sondern erst nach dem Eingang mehrerer anonymer Hinweise, will ein Abgeordneter wissen. Wie könne es sein, dass die Mutter trotz Sorgerechts auch des Vaters einfach mit dem Kind das Land verlasse und es das Jugendamt nicht interessiere, fragt ein anderer Abgeordneter.
Wie könne es sein, dass Polizei und Jugendamtsmitarbeiter vor dem Haus standen, in dem das Kind gefangen gehalten wurde, aber unverrichteter Dinge wieder abzogen, fragt eine weitere Abgeordnete.
Sie stelle sich diese Fragen auch, sei aber nicht die Ermittlungsbehörde, sagte NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne). „Was in diesem Fall hätte anders laufen können und müssen, ist noch Gegenstand der Ermittlungen.“
Sie selbst habe aus den Medien von dem Fall erfahren. Für die SPDFraktion steht eine Konsequenz bereits fest: „Die Jugendämter benötigen eine Fachaufsicht.“
Das Kreisjugendamt hat inzwischen Defizite eingeräumt: Die Verfahrensstandards zum Kinderschutz seien „nicht in Gänze eingehalten worden“, heißt es in einem Bericht an die Abgeordneten, der vor zwei Tagen veröffentlicht wurde. Künftig soll jeder Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung dem Vier-AugenPrinzip unterliegen.