Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Wo die Unabhängigkeit ihren Anfang nahm
In Philadelphia gleicht eine Stadtführung einem Lauf durch die Jahrhunderte
Wer beim Stichwort Philadelphia nur an Rocky Balboas Sprint auf den Treppen zum Museum of Art denkt, dem sei eine Reise an die Metropole an der US-Ostküste dringend empfohlen. Hier kreuzten sich im 18. Jahrhundert die Pfade der Gründungsväter der Vereinigten Staaten, hier wurde der Verlauf der US-amerikanischen Geschichte ausschlaggebend geprägt. Im 20. Jahrhundert dann saß Gangsterboss Al Capone in Philadelphia seine erste Gefängnisstrafe ab, in einer Haftanstalt, die Modell für mehr als 300 weitere stehen sollte. Und im 21. Jahrhundert schließlich sind die Straßenzüge der Stadt von überdimensionalen Wandgemälden und vereinzelten Mosaiken geprägt.
Zwei schmale Betten an den Seiten, gerahmte Bilder an den Wänden, ein Sekretär mit ausgeklappter Arbeitsfläche, Teppiche für ein heimeliges Gefühl – eigentlich könnte der Raum gut als kompaktes Hotelzimmer durchgehen. Tatsächlich jedoch ist es die nachempfundene Gefängniszelle im Eastern State Penitentiary, in der Al Capone seine erste Haftstrafe verbüßt hat. Festgenommen und verurteilt worden war er 1929 wegen Waffenbesitz. Manch einer vermutete, dass der Gangsterboss es darauf ankommen ließ, um sich mit dem Gefängnisaufenthalt aus der Schusslinie zu nehmen – etwas, das er stets bestritt. Seine Entlassung siebeneneinhalb Monate später geriet zum Spektakel. Kameraleute und Schaulustige warteten vor dem Haupteingang auf Capone – und der Gefängnisdirektor ließ ihn zur Sicherheit einen anderen Weg in die Freiheit nehmen.
Wie andere hochkarätige Insassen war Capone in dem Teil des Gefängnisses untergebracht, der den Spitznamen „Park Avenue“trug. Ob letztlich tatsächlich diese Zelle oder die nebenan den Gangsterboss beherbergte, ist unklar. Die Einrichtung jedenfalls wurde anhand einer Fotografie und eines Zeitungsberichts rekonstruiert.
„142 Jahre lang war das Gefängnis im Einsatz“, berichtet Tom DiFilippo, der durch das Gefängnis führt. Als es 1829 den Betrieb aufnahm war es das modernste der Welt. Es hatte fließend Wasser zu einem Zeitpunkt, als es das noch nicht einmal im Weißen Haus gab.
Trotzdem kam es immer wieder zu Ausbruchsversuchen aus diesem einst besten Gefängnis der Welt. „Clarance Klinedinst hat mit seinem Zellengenosse William Russel etwa ein Jahr lang einen Tunnel gegraben“, erzählt DiFilippo. Zehn weitere Insassen folgten den Männern aus Zelle 68 auf dem Weg in die kurze Freiheit. Früher oder später wurden alle wieder geschnappt. Auf dem Weg durch die strahlenförmig angeordneten Zellentrakte erzählt DiFilippo von der Architektur, Filmproduktionen, inhaftierten Kindern, Insassen in Einzelhaft und Veränderungen im Strafvollzug.
Im ältesten Teil der Stadt treffen Geschichtsinteressierte auf Rick Heimann vom Touranbieter WeVenture. Er führt seine Gäste vom Signer’s Garden, zur Carpenter’s Hall, zum Grab von Benjamin Franklin und zur Independence Hall. Philadelphia nimmt in der Geschichte der Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle ein. Hier wurde 1776 die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben, hier erklang die Liberty Bell, hier wurde die Flagge entworfen, hier wurde 1787 die Verfassung verabschiedet und von 1790 bis 1800 war die Metropole gar Hauptstadt der USA. Ein Abstecher führt ins „Museum of the American Revolution“. Hier ist das Zelt ausgestellt, das George Washington während des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs als Schlafgelegenheit und Amtsstube diente. Wer es sehen möchte, nimmt in einem kinoartigen Saal Platz. Es folgt ein filmischer Schnelldurchlauf zur Person Washingtons und den Herausforderungen im Unabhängigkeitskrieg.
Trotz allen Verdiensten Washingtons ist für Rick Heimann der spannendste der Gründerväter Benjamin Franklin. „Er hat als Drucker ein Vermögen erwirtschaftet, später als Wissenschaftler bewiesen, dass es sich bei Blitzen um Elektrizität handelt und dann bis ins hohe Alter als Diplomat gearbeitet.“Sein Grab ist jedoch vergleichsweise bescheiden, etwas detailreicher und aufwendiger dagegen die wenige Gehminuten davon entfernte Büste Franklins.
Direkt hinter der Büste fällt ein haushohes Wandgemälde auf, das die Geschichte der Feuerwehr in Philadelphia abbildet, die Franklin mitgegründet hat. Es zeigt die Entwicklung von Löscheinsätzen mit Pferdekarren bis hin zu modernsten Fahrzeugen. Ebenfalls dargestellt sind drei besonders verheerende Brände.
Es gibt in Philadelphia kaum einen Straßenzug, in dem man nicht auf ein häuserhohes Wandgemälde, ein sogenanntes Mural, trifft. „Philadelphia ist die Mural-Hauptstadt der Welt“, sagt Julie Carson. 4000 Wandmalereien sind seit den 1980er-Jahren entstanden. Ursprünglich startete das Projekt als Aktion gegen illegale Graffiti. Statt Schandflecken wünschten sich die Initiatoren des Kunstprojekts ansehnliche Beiträge fürs Stadtbild. Zudem sollen damit auch Perspektiven beispielsweise für Inhaftierte oder Behinderte geschaffen werden. Manche der Murals tragen humoristische Züge, andere sind Porträts und wieder andere erzählen Geschichten oder Entwicklungen. Nicht immer erschließt sich die tiefere Bedeutung der Kunstwerke auf den ersten Blick – da kann es durchaus hilfreich sein, von einer Führerin wie Carson über die tiefere Bedeutung oder verwendete Symbolik aufgeklärt zu werden. Etwa, wenn in „Water Gives Live“der Hintergrund die beiden Philadelphia einschließenden Flüsse darstellt, dazwischen das gitterartige Straßennetz.
Auch wenn die Gemälde eindeutig überwiegen, gibt es doch auch an mehreren Stellen der Stadt Mosaike von Künstler Isaiah Zagar zu bewundern. Das imposanteste dürften die Magic Gardens sein. Ein musizierendes Schwein aus Lehm, ein weiß-gestreifter Grashüpfer, Bacchus, der römische Gott des Weins und sechs weitere Objekte wollen die Kinder bei ihrer Schnitzeljagd dort finden. Isaiah Zagar hat sie irgendwo zwischen Radspeichen, Flaschen, Gläsern, Kacheln, Spiegelscherben und volkstümlicher Kunst aus Mittelund Südamerika verbaut. Auch wenn das begehbare Wimmelbild zunächst recht kompakt anmutet, kann man sich auf dem knapp 280 Quadratmeter großen Gelände treppauf, treppab, in schmalen Gängen und den beiden Galerien verlieren. Die stillen Örtchen sind ebenfalls mit Mosaiken verziert.
1991 hat Zagar angefangen, die leere Parzelle in der Nähe seines Kunststudios mit Fundstücken zu verzieren. Er zog Wände ein, um mehr Platz für seine Mosaike zu haben. Mit steigenden Immobilienpreisen hätten die Eigentümer das Werk am liebsten plattgemacht. Viele Stimmen wurden jedoch gegen dieses Vorhaben laut und so blieben die Magic Gardens erhalten und tragen nun ihren Teil zur Vielfalt Philadelphias bei.
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