Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Für Iraner geht es in Katar um mehr als Fußball
Prominente Ex-Profis boykottieren die WM – Aktivisten rufen Fans zur Solidarität mit Demonstranten auf
ISTANBUL - Öl und Gas haben das Emirat Katar reich gemacht – und niemand in dem kleinen Land am Persischen Golf, das ab Sonntag die Fußball-WM ausrichtet, ist reicher als das Herrscherhaus Al-Thani. Der 42-jährige Emir Tamim bin Hamad al-Thani ist Milliardär, sein Onkel und Ex-Premier Hamid bin Jassim bin Jaber alThani gilt wegen seiner Immobiliengeschäfte in Großbritannien sogar als „Mann, der London kaufte“.
Insgesamt wird das Vermögen der Al-Thanis auf mehr als 300 Milliarden Dollar geschätzt. Mitglieder des Clans besetzen wichtige Regierungsposten, doch interne Spannungen sind dem Herrscherhaus nicht fremd: Der Vater des Emirs putschte sich 1995 gegen den eigenen Vater an die Macht.
Der heutige Emir, der sich als „Tamim der Glorreiche“verehren lässt, herrscht seit 2013 über das Land mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern. Sein Vater Hamad bin Khalifa alThani gab damals den Thron zugunsten seines Sohnes auf, der sich seit Jahren auf die Position als Emir vorbereitet hatte. Tamim besuchte die britische Militärakademie in Sandhurst und rückte bereits 2003 zum
Kronprinzen und künftigen starken Mann auf.
Schon damals konzentrierte sich der heutige Emir darauf, Katar durch das Engagement in der internationalen Sportwelt bekannt zu machen, und brachte die Asien-Spiele in das Emirat. Auch der Kauf des französischen Spitzen-Fußballclubs Paris St. Germain gehört zu seinen Erfolgen. Der Zuschlag der FIFA für Katar als Ausrichter der ersten FußballWM auf arabischem Boden war sein Meisterstück, auch wenn die Entscheidung des Weltverbandes von Bestechungsvorwürfen überschattet wurde.
Die Al-Thanis gehören zum arabischen Stamm Tamim, herrschen seit dem 19. Jahrhundert über das Gebiet des heutigen Katar und führten das Emirat 1971 in die Unabhängigkeit von Großbritannien. Der Vater des heutigen Emirs verlegte den Schwerpunkt der Wirtschaft weg vom Öl und hin zur Entwicklung der Gasindustrie, die Katar zum weltweit führenden Exporteur von Flüssiggas gemacht hat. Das Emirat hat heute laut Berechnungen der Weltbank nach
Kaufkraft-Parität ein Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 90 000 Dollar im Jahr und ist damit eines der reichsten Länder der Erde; Deutschland liegt bei knapp 60 000 Dollar.
Auch seine außenpolitische Rolle baute Katar in den vergangenen Jahrzehnten aus. Das Emirat wurde Standort amerikanischer Militärstützpunkte und verärgerte seine arabischen Nachbarn, indem es die Muslim-Bruderschaft unterstützte und seinen Nachrichtensender Al-Dschasira kritisch über die Zustände in der arabischen Welt berichten ließ.
Als Herrscherfamilie kontrollieren die Al-Thanis die Schlüsselpositionen der Regierung in Katar. Ministerpräsident und Innenminister Khalid bin Kahlifa bin Abdulaziz alThani und Außenminister Mohammed bin Abdulrahman al-Thani gehören zum Clan. Verteidigungsminister Khalid bin Mohammad al-Attijah ist ebenfalls ein Verwandter.
Außerhalb der Regierung ist die Familie ebenfalls tonangebend. Die Mutter des Emirs, Mosa bint Nasser al-Missned, hat als Vorsitzende einer Stiftung für Bildung und Wissenschaft
renommierte westliche Universitäten wie die Georgetown-Universität in Washington dazu bewegt, Ableger in Katar zu eröffnen. Al-Mayassa bint Hamad bin Khalifa al-Thani, die Schwester des Herrschers, leitet die Museen in Katar und hat in den vergangenen Jahren Kunstwerke im Wert von Hunderten Millionen Dollar gekauft.
Die Al-Thanis bleiben auch bei der Familienplanung häufig unter sich. Die erste Ehefrau des Emirs, Jawaher bint Hamad bin Suhaim Al-Thani, die laut Protokoll den Rang der Herrscher-Gemahlin innehat, ist seine Kusine zweiten Grades. Das Paar hat vier Kinder; der Emir hat außerdem neun Kinder mit zwei weiteren Frauen.
Selbst Kritiker der Herrscherfamilie kommen häufig aus dem Clan selbst. Vor fünf Jahren ließ der Emir laut Presseberichten 20 Mitglieder seiner Familie inhaftieren, weil sie nicht mit dem politischen Kurs des Landes einverstanden waren.
Für politische Akteure außerhalb der Al-Thanis ist in Katar keine Rolle vorgesehen: Parteien sind verboten. Im vergangenen Jahr wurde zwar erstmals eine Art Volksvertretung gewählt, doch das Gremium mit seinen 45 Sitzen dient lediglich als Beratungsforum.
ISTANBUL - Iran fiebert dem ersten Spiel seiner Fußball-Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Katar entgegen. Bei der Begegnung am Montag gegen England geht es aber weniger um die Frage, ob sich das „Team Melli“, wie die iranische Mannschaft genannt wird, die Chance auf das Weiterkommen über die Gruppenphase hinaus bewahren kann. Diskutiert wird vor allem, ob und wie sich die Spieler zur Protestwelle in ihrem Land äußern werden.
Prominente Ex-Fußballer setzten bereits vor Turnierbeginn ein Zeichen und sagten ihre Besuche in Katar aus Solidarität mit den Demonstranten ab. Bei Protesten in Teheran in den vergangenen Tagen wurden nach Oppositionsangaben Werbeposter für die WM angezündet.
Der innenpolitische Konflikt in Iran dürfte über den Persischen Golf nach Katar überschwappen. Die Regierung in Teheran befürchtet, dass es in Katar öffentliche Unterstützung von Spielern oder Fans für die iranischen Demonstranten geben wird. Präsident Ebrahim Raisi befahl dem Außenministerium, es solle zusammen mit den Behörden in Katar „Probleme“während des Turniers verhindern.
Auf genau diese „Probleme“hoffen regierungskritische Aktivisten. Sie appellieren an die Zuschauer in Katar, sie sollten bei jeder WM-Begegnung in der 22. Spielminute den Namen von Mahsa Amini rufen, der jungen Frau, deren Tod in der Gewalt der iranischen Religionspolizei im September die Proteste auslöste. Amini war 22 Jahre alt, als sie starb.
Die Sprechhöre könnten Amini „unsterblich“machen, schrieb die prominente Regimekritikerin Masi Alinejad auf Twitter. Die Opposition erwartet außerdem, dass zumindest einige Fans Fotos von Amini in den Stadien hochhalten und die Parole der Protestbewegung, „Frauen – Leben – Freiheit“skandieren werden.
Die iranische Führung will der Opposition nicht die Initiative überlassen. Der Exil-Oppositionssender Iran International berichtete, Katar habe seinen WM-Reportern offenbar auf iranischen Druck hin die Visa entzogen. Raisi empfing zudem das „Team Melli“vor der Abreise der Spieler nach Katar und wünschte der Mannschaft viel Erfolg. Die Spieler sollten ihr Bestes geben, um Iran Ehre zu machen, sagte Raisi nach Regierungsangaben. Das Regime dürfte die Gruppen-Begegnung Iran gegen die USA am 29. November als symbolischen Kampf gegen den „Großen
Satan“präsentieren. Ob Raisi oder Minister seiner Regierung zu den Spielen der Mannschaft nach Katar reisen werden, ist nicht bekannt.
Vielen in der Mannschaft wäre das wohl nicht recht. Fast alle Spieler blieben beim letzten Vorbereitungsspiel gegen Nicaragua vorige Woche demonstrativ stumm, als die Nationalhymne erklang.
Bei einem vorherigen Spiel fiel auf, dass die Spieler während der Nationalhymne schwarze Trainingsjacken trugen, die ihre Nationaltrikots verdeckten – das wurde als Zeichen der Trauer um die Opfer des Aufstandes gegen die Islamische Republik gewertet. Der frühere Nationalspieler Hossein Mahini wurde vorübergehend festgenommen, weil er die Demonstranten unterstützte.
Während der WM-Vorbereitung gab es laut Pressemeldungen in der Mannschaft Spannungen über die Haltung zur Protestbewegung. Iranische Fans vermuten, dass die Spieler von der Regierung gedrängt werden, zu politischen Fragen zu schweigen.
Prominente Ex-Kollegen haben sich anders entschieden. Ali Daei, der unter anderem bei Bayern München und Hertha BSC Berlin spielte und Kapitän der iranischen Nationalmannschaft war, erklärte auf
Twitter, er wolle nicht nach Katar reisen, sondern in Iran bleiben und an die Todesopfer und ihre Familie denken.
Inmitten der politischen Auseinandersetzungen versucht Nationaltrainer Carlos Queiroz, den Ball nicht aus den Augen zu verlieren. Jeder habe das Recht, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, sagte der portugiesische Trainer über mögliche Protestaktionen seiner Spieler. „Manche sind dafür, andere nicht. Genau so ist es in Iran.“Seine Spieler seien vollkommen auf das sportliche Ziel bei der WM konzentriert.