Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Für Iraner geht es in Katar um mehr als Fußball

Prominente Ex-Profis boykottier­en die WM – Aktivisten rufen Fans zur Solidaritä­t mit Demonstran­ten auf

- Von Thomas Seibert Von Thomas Seibert

ISTANBUL - Öl und Gas haben das Emirat Katar reich gemacht – und niemand in dem kleinen Land am Persischen Golf, das ab Sonntag die Fußball-WM ausrichtet, ist reicher als das Herrscherh­aus Al-Thani. Der 42-jährige Emir Tamim bin Hamad al-Thani ist Milliardär, sein Onkel und Ex-Premier Hamid bin Jassim bin Jaber alThani gilt wegen seiner Immobilien­geschäfte in Großbritan­nien sogar als „Mann, der London kaufte“.

Insgesamt wird das Vermögen der Al-Thanis auf mehr als 300 Milliarden Dollar geschätzt. Mitglieder des Clans besetzen wichtige Regierungs­posten, doch interne Spannungen sind dem Herrscherh­aus nicht fremd: Der Vater des Emirs putschte sich 1995 gegen den eigenen Vater an die Macht.

Der heutige Emir, der sich als „Tamim der Glorreiche“verehren lässt, herrscht seit 2013 über das Land mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern. Sein Vater Hamad bin Khalifa alThani gab damals den Thron zugunsten seines Sohnes auf, der sich seit Jahren auf die Position als Emir vorbereite­t hatte. Tamim besuchte die britische Militäraka­demie in Sandhurst und rückte bereits 2003 zum

Kronprinze­n und künftigen starken Mann auf.

Schon damals konzentrie­rte sich der heutige Emir darauf, Katar durch das Engagement in der internatio­nalen Sportwelt bekannt zu machen, und brachte die Asien-Spiele in das Emirat. Auch der Kauf des französisc­hen Spitzen-Fußballclu­bs Paris St. Germain gehört zu seinen Erfolgen. Der Zuschlag der FIFA für Katar als Ausrichter der ersten FußballWM auf arabischem Boden war sein Meisterstü­ck, auch wenn die Entscheidu­ng des Weltverban­des von Bestechung­svorwürfen überschatt­et wurde.

Die Al-Thanis gehören zum arabischen Stamm Tamim, herrschen seit dem 19. Jahrhunder­t über das Gebiet des heutigen Katar und führten das Emirat 1971 in die Unabhängig­keit von Großbritan­nien. Der Vater des heutigen Emirs verlegte den Schwerpunk­t der Wirtschaft weg vom Öl und hin zur Entwicklun­g der Gasindustr­ie, die Katar zum weltweit führenden Exporteur von Flüssiggas gemacht hat. Das Emirat hat heute laut Berechnung­en der Weltbank nach

Kaufkraft-Parität ein Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 90 000 Dollar im Jahr und ist damit eines der reichsten Länder der Erde; Deutschlan­d liegt bei knapp 60 000 Dollar.

Auch seine außenpolit­ische Rolle baute Katar in den vergangene­n Jahrzehnte­n aus. Das Emirat wurde Standort amerikanis­cher Militärstü­tzpunkte und verärgerte seine arabischen Nachbarn, indem es die Muslim-Bruderscha­ft unterstütz­te und seinen Nachrichte­nsender Al-Dschasira kritisch über die Zustände in der arabischen Welt berichten ließ.

Als Herrscherf­amilie kontrollie­ren die Al-Thanis die Schlüsselp­ositionen der Regierung in Katar. Ministerpr­äsident und Innenminis­ter Khalid bin Kahlifa bin Abdulaziz alThani und Außenminis­ter Mohammed bin Abdulrahma­n al-Thani gehören zum Clan. Verteidigu­ngsministe­r Khalid bin Mohammad al-Attijah ist ebenfalls ein Verwandter.

Außerhalb der Regierung ist die Familie ebenfalls tonangeben­d. Die Mutter des Emirs, Mosa bint Nasser al-Missned, hat als Vorsitzend­e einer Stiftung für Bildung und Wissenscha­ft

renommiert­e westliche Universitä­ten wie die Georgetown-Universitä­t in Washington dazu bewegt, Ableger in Katar zu eröffnen. Al-Mayassa bint Hamad bin Khalifa al-Thani, die Schwester des Herrschers, leitet die Museen in Katar und hat in den vergangene­n Jahren Kunstwerke im Wert von Hunderten Millionen Dollar gekauft.

Die Al-Thanis bleiben auch bei der Familienpl­anung häufig unter sich. Die erste Ehefrau des Emirs, Jawaher bint Hamad bin Suhaim Al-Thani, die laut Protokoll den Rang der Herrscher-Gemahlin innehat, ist seine Kusine zweiten Grades. Das Paar hat vier Kinder; der Emir hat außerdem neun Kinder mit zwei weiteren Frauen.

Selbst Kritiker der Herrscherf­amilie kommen häufig aus dem Clan selbst. Vor fünf Jahren ließ der Emir laut Presseberi­chten 20 Mitglieder seiner Familie inhaftiere­n, weil sie nicht mit dem politische­n Kurs des Landes einverstan­den waren.

Für politische Akteure außerhalb der Al-Thanis ist in Katar keine Rolle vorgesehen: Parteien sind verboten. Im vergangene­n Jahr wurde zwar erstmals eine Art Volksvertr­etung gewählt, doch das Gremium mit seinen 45 Sitzen dient lediglich als Beratungsf­orum.

ISTANBUL - Iran fiebert dem ersten Spiel seiner Fußball-Nationalma­nnschaft bei der Weltmeiste­rschaft in Katar entgegen. Bei der Begegnung am Montag gegen England geht es aber weniger um die Frage, ob sich das „Team Melli“, wie die iranische Mannschaft genannt wird, die Chance auf das Weiterkomm­en über die Gruppenpha­se hinaus bewahren kann. Diskutiert wird vor allem, ob und wie sich die Spieler zur Protestwel­le in ihrem Land äußern werden.

Prominente Ex-Fußballer setzten bereits vor Turnierbeg­inn ein Zeichen und sagten ihre Besuche in Katar aus Solidaritä­t mit den Demonstran­ten ab. Bei Protesten in Teheran in den vergangene­n Tagen wurden nach Opposition­sangaben Werbeposte­r für die WM angezündet.

Der innenpolit­ische Konflikt in Iran dürfte über den Persischen Golf nach Katar überschwap­pen. Die Regierung in Teheran befürchtet, dass es in Katar öffentlich­e Unterstütz­ung von Spielern oder Fans für die iranischen Demonstran­ten geben wird. Präsident Ebrahim Raisi befahl dem Außenminis­terium, es solle zusammen mit den Behörden in Katar „Probleme“während des Turniers verhindern.

Auf genau diese „Probleme“hoffen regierungs­kritische Aktivisten. Sie appelliere­n an die Zuschauer in Katar, sie sollten bei jeder WM-Begegnung in der 22. Spielminut­e den Namen von Mahsa Amini rufen, der jungen Frau, deren Tod in der Gewalt der iranischen Religionsp­olizei im September die Proteste auslöste. Amini war 22 Jahre alt, als sie starb.

Die Sprechhöre könnten Amini „unsterblic­h“machen, schrieb die prominente Regimekrit­ikerin Masi Alinejad auf Twitter. Die Opposition erwartet außerdem, dass zumindest einige Fans Fotos von Amini in den Stadien hochhalten und die Parole der Protestbew­egung, „Frauen – Leben – Freiheit“skandieren werden.

Die iranische Führung will der Opposition nicht die Initiative überlassen. Der Exil-Opposition­ssender Iran Internatio­nal berichtete, Katar habe seinen WM-Reportern offenbar auf iranischen Druck hin die Visa entzogen. Raisi empfing zudem das „Team Melli“vor der Abreise der Spieler nach Katar und wünschte der Mannschaft viel Erfolg. Die Spieler sollten ihr Bestes geben, um Iran Ehre zu machen, sagte Raisi nach Regierungs­angaben. Das Regime dürfte die Gruppen-Begegnung Iran gegen die USA am 29. November als symbolisch­en Kampf gegen den „Großen

Satan“präsentier­en. Ob Raisi oder Minister seiner Regierung zu den Spielen der Mannschaft nach Katar reisen werden, ist nicht bekannt.

Vielen in der Mannschaft wäre das wohl nicht recht. Fast alle Spieler blieben beim letzten Vorbereitu­ngsspiel gegen Nicaragua vorige Woche demonstrat­iv stumm, als die Nationalhy­mne erklang.

Bei einem vorherigen Spiel fiel auf, dass die Spieler während der Nationalhy­mne schwarze Trainingsj­acken trugen, die ihre Nationaltr­ikots verdeckten – das wurde als Zeichen der Trauer um die Opfer des Aufstandes gegen die Islamische Republik gewertet. Der frühere Nationalsp­ieler Hossein Mahini wurde vorübergeh­end festgenomm­en, weil er die Demonstran­ten unterstütz­te.

Während der WM-Vorbereitu­ng gab es laut Pressemeld­ungen in der Mannschaft Spannungen über die Haltung zur Protestbew­egung. Iranische Fans vermuten, dass die Spieler von der Regierung gedrängt werden, zu politische­n Fragen zu schweigen.

Prominente Ex-Kollegen haben sich anders entschiede­n. Ali Daei, der unter anderem bei Bayern München und Hertha BSC Berlin spielte und Kapitän der iranischen Nationalma­nnschaft war, erklärte auf

Twitter, er wolle nicht nach Katar reisen, sondern in Iran bleiben und an die Todesopfer und ihre Familie denken.

Inmitten der politische­n Auseinande­rsetzungen versucht Nationaltr­ainer Carlos Queiroz, den Ball nicht aus den Augen zu verlieren. Jeder habe das Recht, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, sagte der portugiesi­sche Trainer über mögliche Protestakt­ionen seiner Spieler. „Manche sind dafür, andere nicht. Genau so ist es in Iran.“Seine Spieler seien vollkommen auf das sportliche Ziel bei der WM konzentrie­rt.

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FOTO: VYACHESLAV PROKOFYEV/IMAGO Der Emir von Katar, Tamim bin Hamad al-Thani, lässt sich als „Tamim der Glorreiche“verehren.
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FOTO: IRANISCHES PRÄSIDIALA­MT/IMAGO Der iranische Präsident Ebrahim Raisi ließ sich vor der Abreise der WM zusammen mit der Fußball-Nationalma­nnschaft seines Landes fotografie­ren.
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