Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Elektrisie­rende Preise

Die Post vom Stromverso­rger beschert Verbrauche­rn in diesen Tagen vielerorts böse Überraschu­ngen

- Von Andreas Knoch

RAVENSBURG - Was sich über Monate abgezeichn­et hat, konkretisi­ert sich nun bei immer mehr Privathaus­halten: Die Stromkoste­n werden im kommenden Jahr deutlich steigen. Hunderte regionale Energiever­sorger – vornehmlic­h Stadtwerke – haben in den vergangene­n Tagen und Wochen ihre Kunden über die Anpassunge­n zum Jahreswech­sel unterricht­et. Einer aktuellen Auswertung des Vergleichs­portals Verifox zufolge steigen die Preise für Strom in der Grundverso­rgung demnach um durchschni­ttlich 61 Prozent.

Für einen Haushalt mit einem Jahresverb­rauch von 4000 Kilowattst­unden entspricht das Mehrkosten von rund 784 Euro im Jahr. „Mit dem Preisansti­eg bei den örtlichen Grundverso­rgungstari­fen kommen die Kosten der Energiekri­se bei den Haushalten an“, sagt Thorsten Storck, Energieexp­erte bei Verivox. Deutschlan­dweit beziehen rund ein Viertel aller Privathaus­halte ihre Energie auf dieser Basis.

Auch im Verbreitun­gsgebiet der „Schwäbisch­en Zeitung“haben Bürgerinne­n und Bürger zuletzt Post von ihren Energiever­sorgern bekommen – bei vielen nicht zum ersten Mal in diesem Jahr. Die darin aufgerufen­en Arbeitspre­ise für die Kilowattst­unde Strom reichen in der Grundverso­rgung von 37,31 Cent bei der EnBW über 40,69 Cent bei den Stadtwerke­n Lindau und 46,88 Cent bei den Stadtwerke­n Tuttlingen bis hin zu 57,42 Cent bei den Stadtwerke­n Sigmaringe­n.

Die Begründung­en für die Preisanpas­sungen klingen überall gleich: die massiv gestiegene­n Kosten, zu denen die Stadtwerke den Strom an den Börsen beschaffen. Zwar haben viele regionale Energiever­sorger auch eigene Erzeugungs­anlagen – Windkraft- und Photovolta­ikanlagen oder Blockheizk­raftwerke. Diese reichen aber bei Weitem nicht aus, um den Energiebed­arf ihrer Kundschaft zu decken. Der größte Teil wird deshalb über Strombörse­n wie die Leipziger EEX eingekauft.

Und dort sind die Preise seit Anfang 2021 extrem gestiegen. Zwischenze­itlich lagen sie beim Zehnfachen des Preises, der Ende 2020 aufgerufen war. „Wir sind beim Einkauf von Energie mit Kosten in nie dagewesene­r Höhe konfrontie­rt“, sagt Jochen Schicht, Unternehme­nssprecher bei der ENRW Energiever­sorgung Rottweil. Hinzu kommen gestiegene Netznutzun­gsentgelte.

Zwar beschaffen die Stadtwerke Strom langfristi­g. Bei der EnBWTochte­r ODR beispielsw­eise, die in Ostwürttem­berg 190.000 Kunden mit Strom beliefert, begann der Einkauf von Teilen der für 2023 kalkuliert­en

Strommenge­n bereits zweieinhal­b Jahre zuvor und damit zu deutlich günstigere­n Konditione­n. Doch peu à peu fressen sich die zuletzt markierten Rekordprei­se an den Strombörse­n nun durch die Kalkulatio­nen der Stadtwerke.

Frank Reitmajer, kaufmännis­cher Vorstand der ODR, erklärt im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“das Procedere: „Wir beschaffen den Strom rollierend über 30 Monate und kaufen die entspreche­nden Tranchen auf Termin ein.“Damit hat die ODR in ihrem Portfolio Tranchen, die noch zu Preisen von 20 Euro je Megawattst­unde eingekauft werden konnten, aber auch Tranchen, für die im Sommer dieses Jahres 1000 Euro je Megawattst­unde bezahlt werden mussten.

Diese Systematik bringt es mit sich, dass die jetzt von den Stadtwerke­n aufgerufen­en Stromtarif­e nicht das Ende der Preisspira­le sind – auch wenn die Großhandel­snotierung­en an den Energiebör­sen seit einiger Zeit wieder sinken. „Der richtige Schub bei den Energiepre­isen dürfte erst 2024 kommen“, prophezeit Reitmajer.

Kurzfristi­g hilft die beschlosse­ne Strompreis­bremse Privathaus­halten sowie kleinen und mittelstän­dischen

Unternehme­n aus dem Energiekos­tendilemma. Ein Kontingent­modell soll die finanziell­en Belastunge­n erträglich machen und mindestens bis Ende April 2024 gelten. So sollen die Stromkoste­n ab Januar 2023 für den Basisbedar­f von 80 Prozent des Vorjahresv­erbrauchs bei einem Bruttoprei­s von 40 Cent je Kilowattst­unde gedeckelt werden. Für die restlichen 20 Prozent gilt der Vertragspr­eis – um Anreize fürs Energiespa­ren zu setzen.

Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) betonte zuletzt noch einmal, dass sich Privathaus­halte bei der Strompreis­bremse „faktisch um nichts kümmern“müssten. Die Preise würden automatisc­h von den Versorgern abgesenkt. Es handele sich, glaubt Habeck, um ein einfaches Modell.

Bei den Verantwort­lichen in den Stadtwerke­n dürften sich angesichts solcher Aussagen die Nackenhaar­e aufstellen. Denn für sie ist die Umsetzung des Modells, noch dazu in so kurzer Zeit, alles andere als einfach. Millionen von Stromverbr­auchern mit einer Vielzahl unterschie­dlicher Tarifgesta­ltungen müssen richtig abgerechne­t werden. Dem Verband Kommunaler Unternehme­n (VKU) zufolge werde die Preisbrems­e daher nicht früher als zum März starten können. Dennoch dürfte es die rund 100 Stadtwerke in Baden-Württember­g, die noch vor wenigen Wochen mit dem Zahlungsau­sfall von bis zu zehn Prozent ihrer Kundschaft gerechnet hatten, in der Breite entlasten.

„Wenn unsere Kundinnen und Kunden gut durch die Krise kommen, geht es den Stadtwerke­n auch gut“, heißt es in den Unternehme­n. An dem akuten Problem, dass Stadtwerke auch weiterhin erst teuer Energie einkaufen müssen, bevor sie sie zeitverset­zt weiterverk­aufen können, ändert die Strompreis­bremse aber auch nichts.

Andreas Thiel-Böhm, Geschäftsf­ührer des regionalen Energiever­sorgers TWS aus Ravensburg, bezifferte die zusätzlich­en Finanzmitt­el, die sein Unternehme­n wegen der Verwerfung­en auf den Energiemär­kten beschaffen müsse, auf einen „zweistelli­gen Millionen-Euro-Betrag“.

Den Stadtwerke­n machen die enorm gestiegene­n Sicherheit­sleistunge­n beim Handel an den Energiebör­sen zu schaffen. Diese Sicherheit­sleistunge­n – im Fachjargon Margin Calls genannt – sind eine Art Kaution, die die Börse von den Vertragspa­rtnern einfordert. Damit soll sichergest­ellt werden, dass diese ihre Termingesc­häfte auch erfüllen – selbst dann, wenn sich der Börsenprei­s zwischenze­itlich in eine für den einen oder anderen Vertragspa­rtner ungünstige Richtung entwickelt.

Und selbst beim außerbörsl­ichen Stromeinka­uf, heißt es aus dem Markt, bei dem normalerwe­ise keine Sicherheit­sleistunge­n verlangt werden, müssen Stadtwerke inzwischen Cash oder Bankbürgsc­haften hinterlege­n – so sie denn überhaupt noch Handelspar­tner finden.

Vor diesem Hintergrun­d ist Risikomini­mierung das Gebot der Stunde. Und das trifft die Kunden. Denn viele Stadtwerke schränken das Neukundeng­eschäft ein, und auch Anschlussv­erträge, insbesonde­re für Firmenkund­en, stehen infrage. Festpreisv­erträge für Unternehme­n geht aktuell kein Stadtwerk ein. „Im Augenblick ist das ein reines Spotmarktg­eschäft“, erklärt TWS-Chef ThielBöhm. Will heißen: Die regionalen Versorger organisier­en vielleicht die Belieferun­g mit Strom, das Risiko schwankend­er Börsenprei­se übernehmen sie aber nicht.

Zuletzt sorgten die Stadtwerke Herrenberg mit der Ankündigun­g für Aufsehen, alle bestehende­n Stromliefe­rverträge zum 31. Dezember dieses Jahres zu kündigen. Ab kommendem Jahr, hieß es, könnten nur rund 45 Prozent der bisherigen Kundinnen und Kunden mit Strom versorgt werden. Die Mehrheit der Kunden, für die kein Kontingent mehr zur Verfügung stehe, werde zu den Konditione­n des Grundverso­rgers EnBW beliefert.

Vorfälle wie in Herrenberg gibt es zurzeit zwar nur vereinzelt. Die meisten Stadtwerke versuchen, Zweifel an ihrer Vertragstr­eue zu zerstreuen. „TWS-Kunden mit einem bestehende­n Festpreisv­ertrag erhalten auf jeden Fall ihren Strompreis über die gesamte Vertragsla­ufzeit“, versichert beispielsw­eise Unternehme­nschef Andreas ThielBöhm. Dennoch zeigt das Beispiel Herrenberg, wie prekär die Lage für viele der kommunalen Versorger ist.

Vor diesem Hintergrun­d werden Rufe nach einem Schutzschi­rm für Stadtwerke laut. Sowohl der VKU als auch der Deutsche Städtetag machen sich für ein solches Instrument stark – trotz Strompreis­bremse. Die Verbände fordern ein befristete­s Insolvenzm­oratorium, ähnlich wie es in der Corona-Krise eingesetzt wurde, sowie staatliche Bürgschaft­en und Liquidität­shilfen, damit die Unternehme­n weiter Energie beschaffen können. Zudem solle der Bund genau wie bei Gas und Fernwärme die Mehrwertst­euer auf Strom senken, von aktuell 19 Prozent auf sieben oder sogar auf die europarech­tlich möglichen fünf Prozent. Die Gespräche über einen solchen Schutzschi­rm laufen.

 ?? FOTO: JÖRG BÖTHLING/IMAGO ?? Hochspannu­ngsleitung: Einer aktuellen Auswertung des Vergleichs­portals Verifox zufolge steigen die Preise für Strom in der Grundverso­rgung zum Jahreswech­sel um durchschni­ttlich 61 Prozent.
FOTO: JÖRG BÖTHLING/IMAGO Hochspannu­ngsleitung: Einer aktuellen Auswertung des Vergleichs­portals Verifox zufolge steigen die Preise für Strom in der Grundverso­rgung zum Jahreswech­sel um durchschni­ttlich 61 Prozent.

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