Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Elektrisierende Preise
Die Post vom Stromversorger beschert Verbrauchern in diesen Tagen vielerorts böse Überraschungen
RAVENSBURG - Was sich über Monate abgezeichnet hat, konkretisiert sich nun bei immer mehr Privathaushalten: Die Stromkosten werden im kommenden Jahr deutlich steigen. Hunderte regionale Energieversorger – vornehmlich Stadtwerke – haben in den vergangenen Tagen und Wochen ihre Kunden über die Anpassungen zum Jahreswechsel unterrichtet. Einer aktuellen Auswertung des Vergleichsportals Verifox zufolge steigen die Preise für Strom in der Grundversorgung demnach um durchschnittlich 61 Prozent.
Für einen Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 4000 Kilowattstunden entspricht das Mehrkosten von rund 784 Euro im Jahr. „Mit dem Preisanstieg bei den örtlichen Grundversorgungstarifen kommen die Kosten der Energiekrise bei den Haushalten an“, sagt Thorsten Storck, Energieexperte bei Verivox. Deutschlandweit beziehen rund ein Viertel aller Privathaushalte ihre Energie auf dieser Basis.
Auch im Verbreitungsgebiet der „Schwäbischen Zeitung“haben Bürgerinnen und Bürger zuletzt Post von ihren Energieversorgern bekommen – bei vielen nicht zum ersten Mal in diesem Jahr. Die darin aufgerufenen Arbeitspreise für die Kilowattstunde Strom reichen in der Grundversorgung von 37,31 Cent bei der EnBW über 40,69 Cent bei den Stadtwerken Lindau und 46,88 Cent bei den Stadtwerken Tuttlingen bis hin zu 57,42 Cent bei den Stadtwerken Sigmaringen.
Die Begründungen für die Preisanpassungen klingen überall gleich: die massiv gestiegenen Kosten, zu denen die Stadtwerke den Strom an den Börsen beschaffen. Zwar haben viele regionale Energieversorger auch eigene Erzeugungsanlagen – Windkraft- und Photovoltaikanlagen oder Blockheizkraftwerke. Diese reichen aber bei Weitem nicht aus, um den Energiebedarf ihrer Kundschaft zu decken. Der größte Teil wird deshalb über Strombörsen wie die Leipziger EEX eingekauft.
Und dort sind die Preise seit Anfang 2021 extrem gestiegen. Zwischenzeitlich lagen sie beim Zehnfachen des Preises, der Ende 2020 aufgerufen war. „Wir sind beim Einkauf von Energie mit Kosten in nie dagewesener Höhe konfrontiert“, sagt Jochen Schicht, Unternehmenssprecher bei der ENRW Energieversorgung Rottweil. Hinzu kommen gestiegene Netznutzungsentgelte.
Zwar beschaffen die Stadtwerke Strom langfristig. Bei der EnBWTochter ODR beispielsweise, die in Ostwürttemberg 190.000 Kunden mit Strom beliefert, begann der Einkauf von Teilen der für 2023 kalkulierten
Strommengen bereits zweieinhalb Jahre zuvor und damit zu deutlich günstigeren Konditionen. Doch peu à peu fressen sich die zuletzt markierten Rekordpreise an den Strombörsen nun durch die Kalkulationen der Stadtwerke.
Frank Reitmajer, kaufmännischer Vorstand der ODR, erklärt im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“das Procedere: „Wir beschaffen den Strom rollierend über 30 Monate und kaufen die entsprechenden Tranchen auf Termin ein.“Damit hat die ODR in ihrem Portfolio Tranchen, die noch zu Preisen von 20 Euro je Megawattstunde eingekauft werden konnten, aber auch Tranchen, für die im Sommer dieses Jahres 1000 Euro je Megawattstunde bezahlt werden mussten.
Diese Systematik bringt es mit sich, dass die jetzt von den Stadtwerken aufgerufenen Stromtarife nicht das Ende der Preisspirale sind – auch wenn die Großhandelsnotierungen an den Energiebörsen seit einiger Zeit wieder sinken. „Der richtige Schub bei den Energiepreisen dürfte erst 2024 kommen“, prophezeit Reitmajer.
Kurzfristig hilft die beschlossene Strompreisbremse Privathaushalten sowie kleinen und mittelständischen
Unternehmen aus dem Energiekostendilemma. Ein Kontingentmodell soll die finanziellen Belastungen erträglich machen und mindestens bis Ende April 2024 gelten. So sollen die Stromkosten ab Januar 2023 für den Basisbedarf von 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs bei einem Bruttopreis von 40 Cent je Kilowattstunde gedeckelt werden. Für die restlichen 20 Prozent gilt der Vertragspreis – um Anreize fürs Energiesparen zu setzen.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) betonte zuletzt noch einmal, dass sich Privathaushalte bei der Strompreisbremse „faktisch um nichts kümmern“müssten. Die Preise würden automatisch von den Versorgern abgesenkt. Es handele sich, glaubt Habeck, um ein einfaches Modell.
Bei den Verantwortlichen in den Stadtwerken dürften sich angesichts solcher Aussagen die Nackenhaare aufstellen. Denn für sie ist die Umsetzung des Modells, noch dazu in so kurzer Zeit, alles andere als einfach. Millionen von Stromverbrauchern mit einer Vielzahl unterschiedlicher Tarifgestaltungen müssen richtig abgerechnet werden. Dem Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) zufolge werde die Preisbremse daher nicht früher als zum März starten können. Dennoch dürfte es die rund 100 Stadtwerke in Baden-Württemberg, die noch vor wenigen Wochen mit dem Zahlungsausfall von bis zu zehn Prozent ihrer Kundschaft gerechnet hatten, in der Breite entlasten.
„Wenn unsere Kundinnen und Kunden gut durch die Krise kommen, geht es den Stadtwerken auch gut“, heißt es in den Unternehmen. An dem akuten Problem, dass Stadtwerke auch weiterhin erst teuer Energie einkaufen müssen, bevor sie sie zeitversetzt weiterverkaufen können, ändert die Strompreisbremse aber auch nichts.
Andreas Thiel-Böhm, Geschäftsführer des regionalen Energieversorgers TWS aus Ravensburg, bezifferte die zusätzlichen Finanzmittel, die sein Unternehmen wegen der Verwerfungen auf den Energiemärkten beschaffen müsse, auf einen „zweistelligen Millionen-Euro-Betrag“.
Den Stadtwerken machen die enorm gestiegenen Sicherheitsleistungen beim Handel an den Energiebörsen zu schaffen. Diese Sicherheitsleistungen – im Fachjargon Margin Calls genannt – sind eine Art Kaution, die die Börse von den Vertragspartnern einfordert. Damit soll sichergestellt werden, dass diese ihre Termingeschäfte auch erfüllen – selbst dann, wenn sich der Börsenpreis zwischenzeitlich in eine für den einen oder anderen Vertragspartner ungünstige Richtung entwickelt.
Und selbst beim außerbörslichen Stromeinkauf, heißt es aus dem Markt, bei dem normalerweise keine Sicherheitsleistungen verlangt werden, müssen Stadtwerke inzwischen Cash oder Bankbürgschaften hinterlegen – so sie denn überhaupt noch Handelspartner finden.
Vor diesem Hintergrund ist Risikominimierung das Gebot der Stunde. Und das trifft die Kunden. Denn viele Stadtwerke schränken das Neukundengeschäft ein, und auch Anschlussverträge, insbesondere für Firmenkunden, stehen infrage. Festpreisverträge für Unternehmen geht aktuell kein Stadtwerk ein. „Im Augenblick ist das ein reines Spotmarktgeschäft“, erklärt TWS-Chef ThielBöhm. Will heißen: Die regionalen Versorger organisieren vielleicht die Belieferung mit Strom, das Risiko schwankender Börsenpreise übernehmen sie aber nicht.
Zuletzt sorgten die Stadtwerke Herrenberg mit der Ankündigung für Aufsehen, alle bestehenden Stromlieferverträge zum 31. Dezember dieses Jahres zu kündigen. Ab kommendem Jahr, hieß es, könnten nur rund 45 Prozent der bisherigen Kundinnen und Kunden mit Strom versorgt werden. Die Mehrheit der Kunden, für die kein Kontingent mehr zur Verfügung stehe, werde zu den Konditionen des Grundversorgers EnBW beliefert.
Vorfälle wie in Herrenberg gibt es zurzeit zwar nur vereinzelt. Die meisten Stadtwerke versuchen, Zweifel an ihrer Vertragstreue zu zerstreuen. „TWS-Kunden mit einem bestehenden Festpreisvertrag erhalten auf jeden Fall ihren Strompreis über die gesamte Vertragslaufzeit“, versichert beispielsweise Unternehmenschef Andreas ThielBöhm. Dennoch zeigt das Beispiel Herrenberg, wie prekär die Lage für viele der kommunalen Versorger ist.
Vor diesem Hintergrund werden Rufe nach einem Schutzschirm für Stadtwerke laut. Sowohl der VKU als auch der Deutsche Städtetag machen sich für ein solches Instrument stark – trotz Strompreisbremse. Die Verbände fordern ein befristetes Insolvenzmoratorium, ähnlich wie es in der Corona-Krise eingesetzt wurde, sowie staatliche Bürgschaften und Liquiditätshilfen, damit die Unternehmen weiter Energie beschaffen können. Zudem solle der Bund genau wie bei Gas und Fernwärme die Mehrwertsteuer auf Strom senken, von aktuell 19 Prozent auf sieben oder sogar auf die europarechtlich möglichen fünf Prozent. Die Gespräche über einen solchen Schutzschirm laufen.