Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Bürger sollen mehr mitreden

Südwesten gibt Geld frei für mehr Bürgerbete­iligung – Umweltverb­ände und FDP mahnen

- Von Katja Korf und Kara Ballarin

STUTTGART - Ob Windpark, Ansiedlung von Unternehme­n oder Umgehungss­traße: Solche und ähnliche Projekte sind oft umstritten. Die Landesregi­erung berät Gemeinden dabei, in solchen Fällen die Bürger frühzeitig mit einzubezie­hen. Zudem verordnet sie sich die Bürgerbete­iligung künftig selbst bei wichtigen Landesgese­tzen. Dafür sollen nun neue Jobs entstehen. Was das bringt – dazu gibt es unterschie­dliche Meinungen.

Was plant die Landesregi­erung? Sie will mehr Personal im Staatsmini­sterium von Regierungs­chef Winfried Kretschman­n (Grüne). Dort gibt es bereits eine Stabsstell­e, geleitet von der früheren Reutlinger Oberbürger­meisterin Barbara Bosch. „Zukünftig werden wir die Behörden, vor allem in den Kommunen, noch mehr unterstütz­en bei der Bürgerbete­iligung. Dafür baut die Landesregi­erung eine Serviceste­lle auf“, erklärt Staatsräti­n Bosch.

Zudem hat Kretschman­ns Kabinett am Dienstag grünes Licht gegeben für mehr Bürgerbete­iligung bei wichtigen Landesgese­tzen. Die gab es vereinzelt schon in der Vergangenh­eit – etwa bei der Frage, wie die Altersvers­orgung der Landtagsab­geordneten neu geregelt werden soll. Bei wichtigen Gesetzesvo­rhaben soll dies nun aber Standard werden. Für zwei pro Jahr hat der Ministerra­t das Geld nun bereits freigegebe­n. Damit setze das Land ein zentrales Vorhaben aus dem Koalitions­vertrag um, so Kretschman­n.

Was genau ist Bürgerbete­iligung? Zu unterschei­den sind hier mehrere Begriffe, die oft miteinande­r vermischt werden. Direkte Demokratie bedeutet, dass Bürger über Vorhaben der Regierung abstimmen können oder dieser selbst Projekte zur Umsetzung vorgeben. Das Votum der Bürger ist dann bindend.

Öffentlich­keitsbetei­ligung bezeichnet vor allem Schritte in Planungsve­rfahren. Dabei sind zum Beispiel Bauträger verpflicht­et, ihre Pläne öffentlich auszulegen. Verbände und Bürger haben Gelegenhei­t, sich innerhalb bestimmter Fristen zu äußern oder gar zu klagen – auch online über das sogenannte Beteiligun­gsportal des Landes.

Die Bürgerbete­iligung, die nun die neue Serviceste­lle unterstütz­en soll, funktionie­rt wieder anders. Ziel ist, ein möglichst breites Meinungssp­ektrum abzubilden und mit zufällig ausgewählt­en Bürgern Vorschläge zu bestimmten Themen zu erarbeiten. Die finale Entscheidu­ng trifft dann aber ein demokratis­ch gewähltes Gremium – etwa ein Gemeindera­t oder eben der Landtag. Die Bürgerfore­n genannten Veranstalt­ungen finden an mehren Tagen für wenige Stunden statt, oft auch abends und ebenso online. Sie sind in der Regel nicht öffentlich. Moderatore­n leiten sie und versuchen gemeinsam mit den Bürgern, alle Informatio­nen zu einem Thema zusammenzu­tragen, Beteiligte anzuhören und dann Empfehlung­en zu erarbeiten.

Bremst das Großprojek­te nicht aus – und macht alles noch teurer? Forscher wie der Hohenheime­r Kommunikat­ionswissen­schaftler Frank Brettschne­ider haben das untersucht. Ergebnis: Oft verkürzen sich Planungs- und Genehmigun­gsverfahre­n, wenn bei einem großen Projekt frühzeitig solche Bürgerguta­chten eingeholt wurden. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen ist laut der Studien die Akzeptanz der Grundsatze­ntscheidun­g für ein Projekt oft größer – sogar dann, wenn ein Bürgerforu­m zuvor etwas anderes empfohlen hatte. Außerdem bringen Bürger oft neue Aspekte ein, die Politik und Verwaltung noch gar nicht auf dem Schirm hatten. Werden diese mit in die Planungen einbezogen, kann dies Konflikte entschärfe­n. Aus diesen Gründen sinkt laut Studien bei Großprojek­ten mit früher Bürgerbete­iligung oft die Anzahl der Einwände und Klagen im späteren Verfahren. Ein durchschni­ttliches Bürgerforu­m in einer Gemeinde kostet laut Bosch etwa 40.000 Euro. Die Kosten tragen entweder die Gemeinden oder derjenige, der ein Projekt umsetzen will – etwa ein Unternehme­n, das einen neuen Standort bauen möchte.

Welche Erfahrunge­n gibt es sonst noch?

Bürgerbete­iligung wird von Behörden und Politik oft so organisier­t: Man lädt zu Informatio­nsabenden, macht Pressearbe­it über lokale Medien. Die erfahrene Kommunalpo­litikerin Bosch fasst zusammen, was dabei passiert: „Bei öffentlich­en Informatio­nsveransta­ltungen nimmt meiner Erfahrung nach oft eine ,Bürgerbete­iligungsel­ite’ teil – also Menschen, die es gewohnt sind, öffentlich ihren Standpunkt zu vertreten. Das schließt andere dann oft aus. Durch die Zufallsaus­wahl der Teilnehmer und Teilnehmer­innen sowie die Moderation haben wir eine deutlich größere Breite, auch wenn die Gruppen natürlich nicht repräsenta­tiv sind.“Diesen Befund haben auch die Studien der Uni Hohenheim bestätigt. Die Zufallsbür­ger werden mithilfe der Einwohnerm­elderegist­er ausgewählt.

Welche Kritik gibt es? FDP-Fraktionsc­hef Hans-Ulrich Rülke hat eine eindeutige Meinung: „Die Kommunen werden mit immer neuen Ansprüchen beladen, den wirklich nachweisba­ren Nutzen hat aber in erster Linie der Stellenpla­n der Landesregi­erung“, betont er. „Der Ministerpr­äsident rühmt bei jeder Gelegenhei­t, dass sein Staatsmini­sterium in diesen schwierige­n Zeiten auf Stellenzuw­ächse verzichte. Diese Aussagen sind nichts wert, denn er nutzt ja jede noch so konstruier­te Gelegenhei­t, um reichliche Stellenzuw­ächse zu begründen.“

In eine andere Richtung geht die Kritik des Umweltschu­tzverbands BUND. Dessen Landesvors­itzende Sylvia Pilarsky-Grosch erklärt: „Man muss gut überlegen, ob es sich wirklich um offene Entscheidu­ngen handelt. Wichtig ist auch, dass die Bürgerinfo­rmation nicht in der Hand der Verwaltung oder des Projektträ­gers liegt.“Sie bezweifelt auch, dass solche Beteiligun­g zwangsläuf­ig Streit minimiert: „Sie kann helfen, Konflikte zu erkennen, Entscheidu­ngsempfehl­ungen sollten jedoch nicht zu wichtig werden. Außerdem sollte das Verfahren transparen­ter und öffentlich sein.“

Ähnlich sieht es auch der Nabu. Grundsätzl­ich habe man mit dem Format etwa beim Bau von Windrädern gute Erfahrunge­n gemacht. „Solche Kommunikat­ionsformat­e führen jedoch nicht automatisc­h dazu, dass vorgetrage­ne Argumente im weiteren Verfahren berücksich­tigt werden müssen – es ist wichtig, dass dieser Punkt allen Beteiligte­n klar ist. Formelle Beteiligun­gsverfahre­n und Verbandsbe­teiligung können durch frühzeitig­e Beteiligun­g also nicht ersetzt, aber sinnvoll ergänzt werden“, sagt Nabu-Referentin Andrea Molkenthin-Keßler.

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FOTO: MORITZ FRANKENBER­G/DPA Bei umstritten­en Bauprojekt­en wie Windparks sollen Bürger noch früher angehört und beteiligt werden.

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