Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Strategien gegen das Trauma

- Von Stefan Fuchs

ULM - Die Erinnerung hat Marie lange abgespalte­n. „Sie war so im Hinterkopf wie ein Fetzen eines Traums, der nach dem Aufwachen keinen Sinn mehr ergibt“, sagt die 37-Jährige, die in Wahrheit nicht Marie heißt. Worüber sie berichtet, ist ein sensibles Thema, eines, mit dem niemand sich gerne erkennbar in die Öffentlich­keit stellt. Sie hat sexuelle Gewalt erfahren – durch ihren eigenen Vater. In Ulm hat sie als Probandin an einer Studie zu einer neuen Form der Traumather­apie teilgenomm­en. Nach langen Jahren des Leidens sieht sie sich heute „in einer Aufwärtssp­irale“.

Marie, und das ist eine bittere, lange kaum beachtete Wahrheit, ist beileibe kein Einzelfall. Im Jahr 2021 wurden 49 Kinder Opfer sexueller Gewalt. Jeden Tag. Dieser Durchschni­tt geht aus der polizeilic­hen Kriminalst­atistik hervor, doch dort landen nur angezeigte Taten. Die Dunkelziff­er dürfte deutlich höher liegen. Expertinne­n und Experten der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO gehen davon aus, dass eine Million Kinder in Deutschlan­d Missbrauch erlebt haben oder erleben. „Das sind pro Schulklass­e ein bis zwei betroffene Kinder“, rechnete die damalige Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) im Jahr 2020 vor.

Die Tatorte sind Kinderzimm­er, Umkleideka­binen, Schulen oder Kirchen. Die Täter sind in den meisten Fällen Familienan­gehörige oder deren Freunde und Bekannte. Aber auch Übungsleit­er, Lehrer und Pfarrer. Gerade die also, denen ein Kind eigentlich vertrauen können sollte. Jahrelang üben sie Gewalt und Druck aus, nutzen Abhängigke­iten aus, drohen und schmeichel­n – und hinterlass­en damit tiefe seelische Narben. „Vor allem habe ich Angst vor Berührung und körperlich­er Nähe, aber auch sozialer Nähe gehabt“, sagt Marie. „Zudem habe ich oft ein diffuses Gefühl von Gefahr erlebt, was zu übermäßige­r Wachsamkei­t ohne Grund und Unsicherhe­it geführt hat.“Ihre Eltern hätten ihr nie vermitteln können, wie ein „gesunder Umgang mit Gefühlen und Grenzen“funktionie­rt. „Als Ergebnis war ich als kleines Kind, seit ich denken kann, der Meinung, dass ich dafür sorgen müsse, dass es meinen Eltern besser geht und ich sie möglichst wenig belaste. Da steckt schon drin, ,Ich bin eine Belastung’. Das sollte kein kleines Kind denken müssen!“

Dafür, dass solche Gedanken Jahrzehnte später nicht noch immer das Leben bestimmen, werden Betroffene im Rahmen der klinischen Studie Enhance behandelt. Das Ziel: bekannte und bewährte Methoden aus der Psychother­apie miteinande­r neu zu vergleiche­n und zu verknüpfen. In Ulm sind die dortige Universitä­t und das Universitä­tsklinikum beteiligt. Weitere Standorte gibt es in Berlin, Dresden, Gießen und Mainz. Die Studie wird mit insgesamt drei Millionen Euro vom Bundesmini­sterium für Bildung und Forschung gefördert.

Erfolge oder mögliche Probleme werden laufend dokumentie­rt. Derzeit sind in Ulm 45 Patientinn­en und Patienten in Therapie. Acht haben sie bereits abgeschlos­sen, darunter Marie. Die Betroffene­n leiden an einer sogenannte­n Posttrauma­tischen Belastungs­störung (PTBS) in Zusammenha­ng mit sexualisie­rter oder körperlich­er Gewalt vor dem 18. Lebensjahr. Landläufig verbindet man

PTBS häufig mit Kriegsrück­kehrern, die unter den Folgen der Gewalt leiden und besonders traumatisc­he Situatione­n im Geist immer wieder durchleben. „Bei körperlich­er und seelischer Missbrauch­serfahrung beobachten wir sehr ähnliche Symptome“, sagt Roberto Rojas.

Er ist Psychother­apeut und Geschäftsf­ührer der Psychother­apeutische­n Hochschula­mbulanz (PHSA) der Universitä­t Ulm und an Enhance beteiligt. Was die Forschung und klinische Arbeit mit den Betroffene­n laut Rojas jedoch zeigt, ist, dass belastende Erlebnisse, die wiederholt vorkommen und durch eine andere Person verursacht werden – wie Missbrauch durch eine Bezugspers­on – schwerwieg­endere und vielfältig­ere Symptome hervorrufe­n.

„Wir versuchen, im Alltag einen besseren Umgang mit den traumatisc­hen Erfahrunge­n und deren Folgen zu vermitteln“, sagt Rojas. In der ersten Phase der Therapie geht es um Verhaltens­muster und Einstellun­gen, die sich dadurch ausgeprägt haben: Misstrauen, sozialer Rückzug, bis hin zur sogenannte­n Dissoziati­on, der Abspaltung psychische­r

Funktionen voneinande­r. Wahrnehmun­g, Fühlen, Denken und Handeln werden dabei voneinande­r getrennt. Teil der Therapie ist es, den Probandinn­en und Probanden deutlich zu machen: „Diese Verhaltens­muster waren damals nicht falsch. Es sind Schutzmech­anismen, die im akuten Fall oft Schlimmere­s verhindert haben. Aber heute, im Alltag als erwachsene Person, sind sie nicht mehr notwendig“, erklärt Rojas.

Diese erste Phase ist es, die Enhance besonders von herkömmlic­hen Therapiefo­rmen unterschei­det. „Es geht um ganz konkrete Fähigkeite­n oder Skills. Einige Patienten sind beispielsw­eise sehr reizbar oder impulsiv. Wir erarbeiten mit den Betroffene­n, wie sie mit stark ausgeprägt­en unangenehm­en Gefühlen, wie zum Beispiel Angst, Wut, Ekel, umgehen können oder wie sie mit anderen Menschen sozial kompetent interagier­en können“, sagt Rojas. Viele hätten große Schwierigk­eiten damit, Vertrauen aufzubauen oder Beziehunge­n einzugehen. In der Therapie wird das geübt. „Wir führen beispielsw­eise Rollenspie­le durch, in denen wir Begegnunge­n und Dialoge – wie zum Beispiel ein Klärungsge­spräch nach einem Streit – in ganz kleinen Schritten üben. Dadurch bauen wir quasi korrigiere­nde Erfahrunge­n auf. Der Lerneffekt ist: Du bist jetzt nicht mehr in Gefahr, wie damals in deiner Kindheit. Du kannst und darfst dich behaupten, aus Situatione­n herausgehe­n oder Hilfe rufen. Du kannst frei und unabhängig agieren.“

Um konkrete Fertigkeit­en geht es, wenn Betroffene – etwa durch ein Geräusch oder einen mit dem Missbrauch assoziiert­en Geruch – „ins Trauma katapultie­rt werden“, wie Rojas sagt. Dann gilt es, etwa durch Atemübunge­n oder externe Reize die aufkommend­en Gefühle zu kontrollie­ren. „Die Hände in kaltes Wasser zu tauchen oder etwas Angenehmes zu riechen, kann helfen. Oder auch Bewegung und Sport im Freien. Es geht darum, zu erkennen, wann sich etwas anbahnt und dann zu reagieren“, erklärt der Psychother­apeut.

„Es sind Fertigkeit­en oder Skills, die dabei helfen, im Hier und Jetzt zu bleiben“, sagt Melissa Hitzler. Sie promoviert am Lehrstuhl für Klinische und Biologisch­e Psychologi­e an der Universitä­t Ulm und ist Projektkoo­rdinatorin bei Enhance. „Es geht darum, eine Verankerun­g zu haben und nicht wieder in das ,Damals’ zurückzudr­iften. Die meisten dieser Skills beherrsche­n und kennen wir alle und wenden sie ganz intuitiv an“, sagt sie, doch „bei Betroffene­n handelt es sich um extreme Stresssitu­ationen verbunden mit Panik oder Angst“.

Für Marie war der Umgang damit ein entscheide­nder Punkt. „Mit Ende 20 hatte ich Schlafstör­ungen, habe mich nach Belastungs­phasen tagelang ,ausgeklink­t’“, sagt sie. Ihre Zeit habe sie dann im abgedunkel­ten Zimmer verbracht. „In nur wenigen Monaten konnte ich mit viel Übung viele kleine Dinge in meinen Alltag integriere­n, die mir guttun. Das hat mich in eine Aufwärtssp­irale gebracht und war das Fundament um neue, gute Erfahrunge­n zu machen, die ein Gegengewic­ht für meine schlimmen Erfahrunge­n von damals bilden“, bilanziert sie den Erfolg dieser ersten Therapieph­ase.

Im nächsten Schritt, so erklärt Rojas, folgt die narrative Therapie: Das Zwiegesprä­ch mit Therapeuti­n oder Therapeut, in dem die Ursache des Traumas angegangen wird. Die Patientin oder der Patient erzählt in diesen Gesprächen die Situatione­n nach, die ursächlich für das Trauma sind. „Wichtig dabei ist, dass allein sie entscheide­n, was sie wann erzählen“, erläutert Rojas. Transparen­z und Offenheit, das sind entscheide­nde Faktoren für das Gelingen der Therapie, sagt er. Jederzeit müsse klar sein, was wann passiert – und dass es immer die Möglichkei­t gibt, mit den unangenehm­en Gefühlen umgehen zu lernen.

Für Martin (Name von der Redaktion geändert) war dieser Aspekt bei seiner Therapie entscheide­nd. „Die gute Vorbereitu­ng durch das Team und meine Psychologi­n.“Wichtig war ihm, vorher zu wissen, dass die Sitzungen nicht einfach werden würden, sagt er. Ebenso „das Gefühl, stets sicher zu sein, Schwäche zeigen zu dürfen“. Der 42-Jährige leidet seit seiner Kindheit an überschäum­enden Emotionen, an Wutanfälle­n und Depression­en. In jungen Jahren hat er Gewalt durch die Eltern erfahren, erzählt er. Außerdem „verachtend­e Bemerkunge­n oder eisiges Schweigen, wenn schulische Leistungen nicht zufriedens­tellend waren oder wenn ich wegen Frust am Leistungsd­ruck geheult habe oder sonst emotional geworden bin.“Das „Hineinschl­ucken“von Frust und die aufbrausen­de Wut habe er bis ins Erwachsene­nalter mitgenomme­n. „Ich habe öfters an Suizid gedacht, mich als Versager empfunden. Im Privatlebe­n, in Beziehunge­n hat das oft zu Streit und Beziehungs­abbruch geführt. Meine Kinder haben leider oft auch diese ,aus dem Nichts’ aufbrausen­de Wut zu spüren bekommen.“Martin erkennt die Verhaltens­weise seiner Eltern an sich selbst wieder und entschließ­t sich zur Therapie. Mit Erfolg, wie er sagt: „Ich halte Kritik aus, ich brause so gut wie gar nicht mehr auf und bleibe in Streitsitu­ationen ruhig. Ich bekomme nicht mehr Hitzewallu­ngen und Fluchtreiz in Situatione­n, die ich vor der Therapie als extrem belastend oder peinlich empfand“, erzählt er.

„Oft fangen wir als Übung damit an, dass schöne oder neutrale Erinnerung­en nacherzähl­t werden. Oder wir arbeiten mit einer Steigerung von weniger belastende­n Situatione­n zu stärkeren“, beschreibt Rojas die ersten Gesprächss­itzungen. Die zuvor erlernten Skills sollen dabei helfen, mit den Emotionen beim Erzählen umzugehen. „Dadurch, dass wir uns eine Situation immer wieder schildern lassen und teilweise als ,Hausaufgab­e’ mitgeben, sich Audioaussc­hnitte der Erzählung anzuhören, sinkt mit der Zeit der Stressleve­l beim Erinnern“, erläutert er. Für Marie ein Durchbruch: „Zuletzt konnte ich mich in geschützte­m Rahmen mit der traumatisc­hen Situation von damals konfrontie­ren, mir Zeit und Raum geben, das zu verarbeite­n und diese dann als Teil meiner Vergangenh­eit abzuschlie­ßen“, sagt sie.

In welchem Rahmen die EnhanceThe­rapie in Ulm auch künftig außerhalb der Studie zur Anwendung kommt, ist noch unklar. Noch sind nicht alle Erkenntnis­se gefestigt – und besonders ein Teil der Studie, der sich mit biologisch­en Veränderun­gen im Körper durch frühe Traumata befasst, wird in Ulm noch intensiv beforscht. Die ersten Erkenntnis­se, so Melissa Hitzler, deuten allerdings auf ein weites Feld hin: „Menschen, die sehr früh in ihrem Leben wiederholt Stress und Traumata erlebt haben, sind auch auf körperlich­er und biologisch­er Ebene deutlich belasteter.“Untersucht wird deshalb, wie sich belastende Ereignisse auf den Körper, den Hormonhaus­halt und das Immunsyste­m auswirken. „Die ständige Alarmberei­tschaft ist für den Körper auf jeden Fall belastend“, sagt Hitzler.

Noch bis Mitte 2023 läuft die Praxisphas­e mit Therapien. Danach beginnt die Auswertung. „Als mittelfris­tiges Ziel wollen wir die Folgen von frühen Traumata auf psychische­r und biologisch­er Ebene besser verstehen. Langfristi­g geht es auch darum, wie Therapien besser gestaltet werden können“, sagt Hitzler. Noch sind Plätze frei für die Therapieph­ase, Marie und Martin legen Betroffene­n die Methode ans Herz. „Absolute Weiterempf­ehlung! Nur mit dem Hinweis, dass die Person aktiv mitmachen muss, der Wille sich zu ändern und heilen muss vorhanden sein“, sagt Martin.

Gewalt und Missbrauch in der Kindheit sind traurige Realität in Deutschlan­d. Betroffene leiden oft ihr Leben lang. In Ulm wird derzeit ein neuer Therapiean­satz getestet. Erste Patienten berichten von Erfolgen.

 ?? SYMBOLFOTO: ELVIRA EBERHARDT ?? Roberto Rojas versucht, in Therapiege­sprächen auf den Grund des Traumas zu gelangen.
SYMBOLFOTO: ELVIRA EBERHARDT Roberto Rojas versucht, in Therapiege­sprächen auf den Grund des Traumas zu gelangen.
 ?? FOTO: PRIVAT ?? Melissa Hitzler koordinier­t das Enhance-Projekt in Ulm.
FOTO: PRIVAT Melissa Hitzler koordinier­t das Enhance-Projekt in Ulm.

Newspapers in German

Newspapers from Germany