Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Kompromiss mit einem Sieger

Ampel und Union einigen sich beim Bürgergeld – Wo sich die CDU durchgeset­zt hat und wie die Sozialrefo­rm jetzt aussieht

- Von Jacqueline Westermann

BERLIN - Vergangene Woche scheiterte das Bürgergeld vorerst im Bundesrat. Die Länder, in denen die Union mitregiert, stimmten gegen die geplante Sozialrefo­rm oder enthielten sich. Die Bundesregi­erung rief daraufhin den Vermittlun­gsausschus­s von Bundesrat und Bundestag an. Dieser soll am Mittwochab­end zusammenko­mmen, um die Möglichkei­ten für einen Kompromiss abzustimme­n. Am Dienstag wurden Details aus der vorbereite­nden Einigung von Ampelparte­ien und Union bekannt. Antworten auf die wichtigste­n Fragen:

An welcher Stelle zeigt sich eine Annäherung?

Bei den Hauptkriti­kpunkten der Union, Sanktionsf­reiheit und Schonvermö­gen, zeichnet sich ein Kompromiss ab. Die Forderunge­n der Union seien „vollumfäng­lich erfüllt worden“, sagte Hermann Gröhe, stellvertr­etender Vorsitzend­er der CDU/CSU-Bundestags­fraktion, am Dienstag. Sollte der Vermittlun­gsausschus­s den Einigungen zustimmen, ist die ursprüngli­ch geplante sechsmonat­ige sogenannte Vertrauens­zeit im Bürgergeld nicht mehr vorgesehen. Dass es Sanktionen für Meldeverst­öße und Pflichtver­letzungen von Anfang an gebe, sei „ein wirklich wichtiger Erfolg“, sagte Stephan Stracke (CSU). „Der Geist des bedingungs­losen Grundeinko­mmens wurde in der Flasche sicher verkorkt“, so der arbeits- und sozialpoli­tische Sprecher der Union.

Weiter werde die Karenzzeit bei den Schonvermö­gen von 24 auf 12 Monate gesenkt. Die Union habe dies akzeptiert, weil die meisten Vermittlun­gen in diesem Zeitraum gelängen, betonte Gröhe. Die Schonvermö­gen an sich sollen bei Einzelpers­onen von 60.000 auf 40.000 Euro abgesenkt und bei weiteren Haushaltsm­itgliedern von 30.000 auf 15.000 Euro halbiert werden.

Wie bewertet die Ampel den Kompromiss?

Sowohl Union als auch SPD, Grüne und FDP betonten, dass die endgültige Entscheidu­ng im Vermittlun­gsausschus­s falle. Eine vermeintli­che „Siegesstim­mung“bei der Union wiesen die Ampel-Fraktionen zurück. Man habe sich im Interesse der Sache bewegt, sagte Katja Mast (SPD). „Demokraten müssen kompromiss­fähig sein“, so die Erste Parlamenta­rische Geschäftsf­ührerin der Sozialdemo­kraten. Dass die Union dem von ihr in vergangene­n Jahren mitgetrage­nen Schonvermö­gen so nicht mehr im Bürgergeld zustimmen wollte, habe die Ampel akzeptiert und sei auf die Union einen Schritt zugegangen, sagte Mast. Der Kern des Bürgergeld­es habe sich nicht verändert, betonte auch Britta Haßelmann, Fraktionsv­orsitzende der Grünen. Regelsatz, Qualifizie­rung, Kooperatio­n – all das sei nach wie vor gegeben, erklärte sie am

Dienstag. Sie bedauere, dass es die Vertrauens­zeit nicht geben werde. Sanktionen fänden bisher nur bei drei Prozent der Leistungsb­eziehenden Anwendung. Missverstä­ndnisse

in der öffentlich­en Debatte konnten durch die Anpassunge­n ausgeräumt werden, sagte Johannes Vogel, Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer der FDP.

Welche Maßnahmen der Reform bleiben noch?

Unter anderem die Regelsatze­rhöhung. Sie sieht für einen alleinsteh­enden Bezieher künftig statt des Hartz IV-Satzes von 449 Euro einen monatliche­n Betrag von 502 Euro vor, für Paare 902 Euro. Über die Erhöhung waren sich Regierung und Opposition schon vor dem Streit einig. Darüber hinaus setzt das Bürgergeld auf Weiterbild­ung und Qualifizie­rung. Der Vermittlun­gsvorrang, also die Vermittlun­g in Arbeit vor allen anderen Maßnahmen, soll abgeschaff­t werden. „Gewinner sind die Betroffene­n selbst, weil wir mit dieser Sozialrefo­rm erstmals ernsthaft in ihre Qualifizie­rung für den Arbeitsmar­kt investiere­n und über mehr Leistungsg­erechtigke­it durch fairere Zuverdiens­te das System motivieren­der machen“, sagte der sozialpoli­tische Sprecher der FDP, Pascal Kober. Das soziale Netz solle zum Sprungbret­t in den Arbeitsmar­kt werden. „Das wird auch die Kritik mancher Arbeitgebe­r verstummen lassen, die diesen Teil der Reform bisher übersehen haben und dringend auf Arbeitskrä­fte angewiesen sind“, so Kober. Auch die Anpassung der Hinzuverdi­enstgrenze­n bleibe wie geplant, betonte Johannes Vogel, Erster Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer der FDP. Wenn junge Menschen künftig mehr von ihrem selbst verdienten Geld behalten könnten, mache das einen Unterschie­d, so Vogel. Schüler, Studierend­e und Auszubilde­nde dürfen Verdienste aus Minijobs künftig behalten, ohne dass die Bezüge der Familie gekürzt werden, auch Einkommen aus Ferienjobs werden nicht mehr angerechne­t.

Kann das Bürgergeld zeitlich wie ursprüngli­ch geplant umgesetzt werden?

Der erste Teil der Reform, unter anderem die Regelsatze­rhöhung, soll zum 1. Januar 2023 in Kraft treten. Damit die Arbeitsage­nturen beziehungs­weise Jobcenter die Anpassung umsetzen können, muss das Bürgergeld bis Ende November beschlosse­n werden. Sollte der Vermittlun­gsausschus­s am Mittwochab­end auch offiziell grünes Licht für die Reform geben, müssen der Bundestag und der Bundesrat noch einmal über das Gesetzesvo­rhaben abstimmen. Katja Mast erklärte dazu, dass der jetzt erreichte Vorschlag als Debattengr­undlage für den Vermittlun­gsausschus­s am Mittwoch fungiere. Mit einem Ergebnis könne gegen 22 Uhr gerechnet werden. Die erneuten Abstimmung­en seien für den Bundestag und für den Bundesrat für Freitag angesetzt.

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