Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Der Gasverbrau­ch geht um 40 Prozent zurück“

Klaus Müller, Präsident der Bundesnetz­agentur, über die Energiever­sorgung in diesem Winter

- Von Igor Steinle

BERLIN - Der Chef der Bundesnetz­agentur ist verantwort­lich für die Infrastruk­tur im Land. Ein Gespräch über den bevorstehe­nden Winter, mögliche Gas-Engpässe und darüber, warum er trotz der enormen Herausford­erungen seine Zuversicht nicht verliert.

Klaus Müller ist bekannt für seine notorisch gute Laune. Insofern passt der 51-Jährige gut ins Rheinland, wo er seit diesem Jahr Chef der Bundesnetz­agentur in Bonn ist und somit verantwort­lich für die Infrastruk­tur dieses Landes, von der Bahnschien­e bis zur Gaspipelin­e. Nicht mal der dicke Pullover, in dem er im herunterge­kühlten Bürogebäud­e unsere Fragen beantworte­t, kann seine Stimmung trüben. Das hat auch damit zu tun, dass Müller, der bisher als warnende Stimme der Gaskrise auftrat, inzwischen optimistis­cher klingt. Deutschlan­d sei mittlerwei­le wesentlich besser auf die Energiekri­se vorbereite­t als noch vor Kurzem.

Herr Müller, warum steht Deutschlan­d besser da als noch vor ein paar Monaten?

Erstens diversifiz­ieren wir unsere Gasquellen. Wir erhalten seit Monaten kein russisches Pipelinega­s mehr, können aber davon ausgehen, dass unsere Nachbarn in Norwegen, Belgien, den Niederland­en und Frankreich uns helfen. Der Bau von drei Terminals für Flüssigerd­gas (LNG) liegt für diesen Winter zudem im Zeitplan. Zweitens wird sowohl in der Industrie als auch in den privaten Haushalten Gas gespart, wir erreichen die nötigen 20 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren. Das hat etwas mit dem hohen Preis zu tun, in der Industrie teils auch mit technische­r Innovation, aber leider auch mit Produktion­srückgänge­n oder Stilllegun­g. Und drittens sind die Gasspeiche­r historisch gut gefüllt. Das hat jetzt in den vergangene­n Tagen zwar etwas abgenommen, was im November aber vollkommen normal ist.

Reichen die Einsparung­en bei den Haushalten aus?

Das schwankt sehr stark, was auch normal ist. Es gibt rund 20 Millionen Haushalte mit Gastherme, jeden Morgen werden also 20 Millionen Entscheidu­ngen getroffen: Kann morgens die Küche kalt bleiben? Aber sollte nicht das Wohnzimmer warm bleiben, da die Mutter oder der Sohn leicht frieren? Diese Entscheidu­ngen sehen wir dann zusammenge­fasst im Gasverbrau­ch.

Wie entwickelt sich dieser, seit es kälter ist?

Die ersten kälteren Novemberwo­chen entwickeln sich sehr verantwort­ungsbewuss­t. Wir beobachten im Vergleich zu den Vorjahren einen Rückgang des Gasverbrau­chs um 40 Prozent. Das Problem ist, dass wir das den ganzen Winter durchhalte­n müssen. Und der kann in Deutschlan­d bis in den März hineinreic­hen. Darum darf man sich nicht nur einmal richtig entscheide­n, man muss sich Tag für Tag aufs Neue richtig entscheide­n.

Wie lange halten die Gasvorräte in den Speichern eigentlich, sollte es ein klirrend kalter Winter werden? Da legen Sie jetzt den Finger in die Wunde, weil alle Modelle, die die Bundesnetz­agentur und die Universitä­ten berechnet haben, von einem durchschni­ttlichen Winter ausgehen. Die gute Nachricht ist aber, dass der Deutsche Wetterdien­st von einem eher wärmeren Winter ausgeht. Sollte es aber wirklich über Wochen klirrend kalt und die Speicher stark beanspruch­t werden, wird es schwerer, gut über den Winter zu kommen. Und es wird schwerer, die Speicher für den übernächst­en Winter zu füllen.

Haben Sie schon alle Bauernrege­ln fürs Wetter studiert?

Glauben Sie mir, ich kenne inzwischen alle Witze darüber. Aber es ist tatsächlic­h so: Von nichts hängt der Gasverbrau­ch in Deutschlan­d im Winter so stark ab wie von den Temperatur­en. Darum ist eben jede Wärmepumpe, die installier­t, jedes Dach, das saniert, jede Heizungsan­lage, die noch mal vom Handwerker eingestell­t wird, so wichtig. Energieeff­izienz ist das Wort dieses Winters.

Gehen wir mal davon aus, dass das alles nicht ausreicht und wir in eine Gasmangell­age schlittern. Die Bundesnetz­agentur würde entscheide­n, wer noch Gas erhält. Wie würden Sie vorgehen?

Wir unterschei­den zwischen geschützte­n und gewerblich­en und industriel­len Abnehmern und auch hier noch mal zwischen der Größe der Abnehmer. Zuerst einmal gehen wir davon aus, dass Unternehme­n von alleine auf gestiegene Preise reagieren. Wenn das nicht reicht, müssen die nicht geschützte­n Kunden, die keinen lebenswich­tigen Bedarf haben, einen bestimmten prozentual­en Verbrauchs­wert einhalten. Das könnten wir im Nachhinein kontrollie­ren und sanktionie­ren, wenn das nicht umgesetzt wurde.

Wenn das auch nicht reicht? Zusätzlich könnten wir mit Individual­verfügunge­n bei den 2500 größten Gasverbrau­chern Reduzierun­gen anordnen, die für 60 Prozent des deutschen Gasverbrau­chs stehen. Über den Sommer hinweg haben wir eine IT-Plattform geschaffen, die es uns erlaubt, mit diesen Kunden in Echtzeit zu kommunizie­ren, damit wir im Notfall deren Gasverbrau­ch kennen und wissen, wie viel Schaden wir anrichten, würden wir anweisen, das Gas abzustelle­n.

In vielen Büros wurde bereits die Heizung runtergedr­eht, das große Bibbern hat begonnen. Bei Ihnen auch?

Ja, und es nicht so, dass bei den Kolleginne­n und Kollegen der Bundesnetz­agentur diese Entscheidu­ng nur beliebt wäre. Wir sitzen hier in einem Hochhaus und stellen fest, dass die vorgeschri­ebenen 19 Grad nur ein Mittelwert sind und die Temperatur­en auf unterschie­dlichen Etagen anders ausfallen. Aber warum sollte es uns besser gehen als anderen Behörden oder Unternehme­n? Mindestens in den nächsten beiden Wintern bleibt das eine Herausford­erung, die wir meistern wollen. Ich habe mir auch einen neuen, wärmeren Pullover gekauft.

Im Winter sollen drei LNG-Terminals an den deutschen Küsten zur Verfügung stehen. Wissen Sie bereits, woher das Gas kommen soll, das dort anlandet? Gibt es schon Verträge?

Die Bundesregi­erung hat es den Betreibern zur Auflage gemacht, dass sie solche Verträge abschließe­n und nachweisen müssen. Meines Wissens ist das bei den dreien, die jetzt kommen, auch geschehen. Unser Preisnivea­u für Flüssiggas liegt über dem asiatische­n, weswegen die LNGTanker momentan leicht den Weg nach Europa finden. Insofern bin ich Stand heute optimistis­ch, dass wir das Gas auch bekommen. Aber wir zahlen dafür einen hohen Preis.

Umweltverb­ände warnen, dass wir in wenigen Jahren so viel neues Gas haben, dass jeder Klimaschut­z zunichtege­macht würde.

Ich verstehe die Besorgnis. Aber wir achten sehr darauf, dass die Infrastruk­tur, die wir jetzt auf den Weg bringen, auch mit Wasserstof­f betrieben werden kann. Wir behalten die langfristi­gen Klimaschut­zziele im Blick. Dass das manchen nicht schnell genug geht und andere die Sorge haben, dass das alles zu viel kostet, kann ich nachvollzi­ehen. Die Bundesnetz­agentur wird da aber sehr sensibel sein.

Das Fraunhofer-Institut hat angesichts der hohen Kosten, die ein Umbau der LNG-Terminals auf Wasserstof­f verursacht, Bedenken geäußert, ob sich das überhaupt lohnt. Sehen Sie diese Gefahr auch? Natürlich, aber das ist ein Teil des Abwägungsp­rozesses. Ich glaube, dass wir auch technologi­sche Innovation­en sehen werden, viele Ingenieure werden sich auf das Thema stürzen. Es wird weltweit den Druck geben, auf nachhaltig­e Wasserstof­ftechnolog­ie umzusteige­n. Auch die Exportländ­er sagen ja, dass sie perspektiv­isch Wasserstof­f exportiere­n wollen.

Kann das bestehende Gasnetz eigentlich auch für Wasserstof­f genutzt werden?

Die Antwort wird nicht schwarz oder weiß sein. Teile der Pipelinest­ruktur wird man sicherlich umrüsten können. Andere Teile wird man neu bauen müssen, damit sie wasserstof­fkompatibe­l sind. Wahrschein­lich werden wir Wasserstof­f zuerst in den industriel­len Großanlage­n nutzen.

Die Frage ist daher: Wird die Wasserstof­felektroly­se eher bei den Industriea­bnehmern entstehen oder dort, wo viel erneuerbar­e Energie erzeugt wird? Was wird also effiziente­r sein: Strom oder Wasserstof­f zu transporti­eren? Das ist eine wichtige Standortfr­age, deswegen haben sich hier ja schon namhafte Ministerpr­äsidenten in die Debatte eingeklink­t.

Vieles deutet darauf hin, dass Wasserstof­f im Norden entstehen wird, wo es viel der für die Herstellun­g nötigen Windenergi­e gibt, es müssten also Leitungen in den Süden gebaut werden. Droht das gleiche Szenario wie bei den Stromnetze­n, deren Ausbau nicht vorangeht?

Aus heutiger Sicht ist Deutschlan­d in den letzten Jahren nicht schnell genug vorangekom­men, was den Ausbau der Stromnetze angeht. Viele Diskussion­en wurden zu sehr in die Länge gezogen. Dabei haben wir Zeit verloren. Ich glaube, daraus haben viele Akteure gelernt. Ich bin der festen Überzeugun­g, dass Menschen den gleichen Fehler nicht zweimal machen sollten.

Obwohl die Ampel Druck beim Ökostromau­sbau macht, geht es hier noch immer nicht voran. Wieso?

Erstens sind die Reformen noch nicht in Kraft getreten. Zweitens brauchen Windkrafta­nlagen Vorlauf. Drittens sind die Flächen nach wie vor knapp, eine verabschie­dete Reform greift hier ebenfalls erst in der Zukunft. Die Länder sind jetzt am Zug, die Flächen zur Verfügung zu stellen. Viertens muss noch auf europäisch­er Ebene viel passieren. Und fünftens sind die Betreiber natürlich auch so schlau, dass sie auf die höhere Vergütung im kommenden Jahr warten.

Wann wird man sehen, ob die Reformen von Wirtschaft­sminister Robert Habeck (Grüne) wirken oder nicht?

Vielleicht noch nicht bei der ersten Ausschreib­ung im kommenden Jahr. Aber ich rechne damit, dass das Osterpaket bis Mai, wenn die zweite Ausschreib­ung stattfinde­t, bei den Unternehme­n ankommt und es bis dahin auch mehr Flächen in den Ländern gibt.

Ihr früherer Job als Verbrauche­rschutz-Chef war sicherlich etwas weniger intensiv als der jetzige. Haben Sie sich schon mal gefragt, was Sie sich da angetan haben?

Als Verbrauche­rschützer haben sie hohe Freiheitsg­rade und sie können die Stimme der Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r sein, das ist ein toller Job. Als Bundesnetz­agentur können Sie natürlich unmittelba­r gestalten. Ich habe die Möglichkei­t, jetzt viel mehr direkt für die Energiewen­de zu tun, als eben nur zu kritisiere­n und Vorschläge zu machen, was für einen Lobbyverba­nd gilt. Dass ich aber irgendwann mal einen Gasmangel vorwärts und rückwärts durchbuchs­tabieren würde, damit habe ich natürlich nicht gerechnet.

„Wir könnten mit Individual­verfügunge­n bei den 2500 größten Gasverbrau­chern Reduzierun­gen anordnen.“Klaus Müller

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FOTO: ROLF VENNENBERN­D/DPA Klaus Müller, Präsident der Bundesnetz­agentur, hat in seiner Behörde die Temperatur auf 19 Grad gesenkt.

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