Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Der Erinnerung nachgelaufen
Christiane Hoffmann ist mit dem „Buchpreis Familienroman“ausgezeichnet worden
BERLIN - Es erfordert Mut, sich der eigenen Familiengeschichte zu stellen. Den großen Brüchen und Verletzungen nachzugehen, die sich in den meisten Familie finden. Christiane Hoffmann, die bis 2021 für den „Spiegel“gearbeitet hat und jetzt erste stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung ist, hat dieses Wagnis unternommen – im wortwörtlichen Sinne. Nach dem Tod ihres Vaters ging sie den Weg nach, den er 1945 als Zehnjähriger gehen musste; 558 Kilometer vom polnischen Dorf Rosenthal/Rozyna nach Klinghart/Krizovatka im heutigen Tschechien.
„Alles, was wir nicht erinnern“, heißt das Buch, in dem Christiane Hoffmann ihre Erlebnisse, ihre Gedanken, ihre Gespräche mit den Menschen auf ihrer Reise und mit sich selbst aufgeschrieben hat. Am Montagabend wurde sie für ihren Roman mit dem „Buchpreis Familienroman“der Stiftung Ravensburger Verlag geehrt, eine mit 12.000 Euro dotierte Auszeichnung. Es sei ein komplexes und kluges literarisches Werk, sprachlich brillant, begründete Stiftungsvorstand Johannes Hauenstein die Entscheidung der Jury.
Es ist eine eigenwillige literarische Mischung, mit der die Autorin die Jury überzeugt hat. „Es ist eine meisterhafte Mischung aus Reportage, Essay und Autobiografie, sprachlich hinreißend, historisch kenntnisreich, politisch hellsichtig und nicht zuletzt von großer, erfahrungsgesättigter Menschlichkeit“, rühmte Laudator Uwe Wittstock den Roman. Und: Christiane Hoffmann trifft mit ihrem Buch auch das Gefühl einer Generation, die erst Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurde – und dennoch das
Gefühl hat, dass dieser Krieg noch immer die eigene Lebensgeschichte beeinflusst hat. Weil es das Lebensthema der Eltern und der Großeltern war.
Flucht und Heimatverlust, die Suche nach Erinnerungen, die der Vater nicht an seine Kinder weitergeben konnte, um ihnen verständlich zu machen, was auf der Familie lastet, sind die großen Themen dieser Erzählung. Die Autorin wanderte 75 Jahre nach Kriegsende, vom 20. Januar an, in Richtung Westen, auf den Spuren ihres Vaters. Der Roman sei „ein untröstlicher Klagegesang über die Schmerzen vergangener und kommender Kriege und ist nicht zuletzt die hinreißende Liebeserklärung einer Tochter an ihren von seiner Flucht unwiederbringlich versehrten Vater“, sagte Wittstock.
Auch aus dem Berufsleben der Autorin lässt sich eine gewisse Sehnsucht nach dem Osten Europas herauslesen. Die frühere Journalistin war für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“als Korrespondentin in Moskau tätig. Und bevor sie zum ersten Mal die USA besuchte, kannte sie Leningrad, Kiew, Riga, Tallinn und Tartu, wie sie in ihrem ganz persönlichen Wanderbuch schreibt.
Die zweite Auszeichnung des Abends, den ebenfalls mit 12.000 Euro dotierten Leuchtturmpreis Ehrenamt, übergab Stiftungsvorstand Johannes Hauenstein an einen Verein „HerzCaspar“. Fernanda Gräfin Wolff Metternich und Xenia von Schiller riefen einen ehrenamtlichen Besuchsdienst für Kinder und Jugendliche bei Krankenhausaufenthalten ins Leben, weil ihr eigener Bruder, Caspar von Schiller, dieses Vorhaben nicht mehr selbst umsetzen konnte. Er verstarb 2014 im Alter von 20 Jahren nach einer langen Herzkrankheit.