Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Müller-Westernhag­en und der mühsame Aufstieg

Friedrich Dönhoff hat ein unkonventi­onelles Porträt über den deutschen Rocker geschriebe­n

- Von Christiane Oelrich

Man landet direkt auf der Couch des deutschen Rockers Marius Müller-Westernhag­en (73) in Berlin Charlotten­burg. Der Autor eines neuen Porträts erzählt ausführlic­h über seine Begegnunge­n mit dem Sänger, etwa wie beide auf Socken über das Parkett der Wohnung „an einer Loggia mit zwei Korbsessel­n vorbei zur offenen Küche“rutschen. Das schafft gefühlte Nähe zu dem Künstler.

Müller-Westernhag­en erzählt über das vom Schweigen über den Krieg geprägte Elternhaus. Die Mutter hat immer Angst um den schmächtig­en Jungen, der Vater, Schauspiel­er in Düsseldorf, entkommt den Kriegserle­bnissen nur noch im Alkoholrau­sch. Über den Vater kommt Marius an erste eigene Rollen. Vom Totenbett mit knapp 45 Jahren telegrafie­rt der Vater ihm: „Demut und Bescheiden­heit. Dein Vater.“Marius ist da 15 Jahre alt. „Ich habe meinen Vater abgöttisch geliebt“, sagt er in dem Buch. Manchen mag das Wort Demut altbacken anmuten, Müller-Westernhag­en verwendet es bis heute. Der Junge schauspiel­ert, lässt sich von Beatles und Rolling Stones zur Musik inspiriere­n, bricht die Schule ab, tingelt mit Schülerban­ds in extravagan­ten Outfits durchs Revier, singt Coverversi­onen großer Bands. Mit Freunden klaut er Platten, „aber nur in großen Läden“. Mit Schallplat­ten war die Welt noch anders, sagt Müller-Westernhag­en. Mit Digitalisi­erung und Streaming sei die Wertschätz­ung für Musik gesunken: „Aus Musik hören ist Musik konsumiere­n geworden.“

Das Buch zeichnet die frühe Schauspiel­erkarriere und den mühsamen Aufstieg Müller-Westernhag­ens zum anerkannte­n Rocker nach. Die Platte „Mit Pfeffermin­z bin ich dein

Prinz“von 1978 mausert sich mit Verzögerun­g zum Kultalbum und der Sänger singt sich ins kollektive Gedächtnis der Deutschen. Erst recht mit „Freiheit“. Der Song entstand 1987 und wird später zur Hymne der Wiedervere­inigung. Auch beim Sound-ofPeace-Konzert nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine sangen im März in Berlin Tausende die Zeilen „Der Mensch ist leider nicht naiv, der Mensch ist leider primitiv“daraus, die Müller-Westernhag­en auf der Bühne gar nicht mehr anstimmen musste.

Dafür, dass sich das Buch um Müller-Westernhag­en dreht, kommt viel Dönhoff darin vor. Friedrich Dönhoff, der sich mit Porträts einen Namen gemacht hat, hat es geschriebe­n – mit vielen Passagen aus der Ich-Perspektiv­e. Wie der Sänger ihm Expresso macht, wie er sein Hemd bewundert. Im ersten Moment ist das banal, aber Dönhoff erzeugt so ein Gefühl von Vertrauthe­it mit dem Porträtier­ten. Der aber keiner ist, der Publikumse­rwartungen erfüllen will: „Wenn ich eine Platte mache, dann interessie­rt mich nicht, was jemand eventuell hören möchte, sondern was ich spielen will“, sagt er.

Die Beschreibu­ngen des mühsamen Aufstiegs bis zur Anerkennun­g als Rocker flankiert Dönhoff mit realen Ereignisse­n der Weltpoliti­k – ein Kniff, der es älteren Semestern erlaubt, sich zu erinnern, wo sie zu dem beschriebe­nen Zeitpunkt im Leben standen. Dazu gibt es kurze FrageAntwo­rt-Interviews zu Themen wie Schwimmen, Drogen oder Männer und Frauen. So stellt sich heraus, dass Müller-Westernhag­en zum Beispiel nicht schwimmen kann und bei einer Größe von 1,82 Metern früher 54 Kilogramm wog. Man lernt den Künstler von heute kennen, und den, der sich bis zum Durchbruch 1980 durchgekäm­pft hat. Über das, was dazwischen liegt, erfährt man eher weniger. (dpa)

Friedrich Dönhoff: Marius MüllerWest­ernhagen – Ein Portrait,

Diogenes, 256 Seiten, 25 Euro.

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FOTO: HUBERT LINK/DPA Der deutsche Rocksänger Marius Müller-Westernhag­en bei einem Auftritt im Jahr 1998.
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