Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Unterkünfte werden zu einem großen Problem
An immer mehr Orten dienen Hallen als Notquartiere für Flüchtlinge – Der Winter könnte zu einer weiteren Fluchtbewegung führen
BERLIN - Die Lage in Ländern, Landkreisen und Kommunen ist angespannt: Günstiger Wohnraum ist knapp, aber immer mehr Menschen sind auf der Suche nach einer bezahlbaren Unterkunft. Rund eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine sind seit Beginn des russischen Angriffskrieges nach Deutschland geflohen. Dazu kommen Zehntausende Migranten aus anderen Konfliktregionen, die ebenfalls in Deutschland Schutz suchen. Wird die Situation sich im Winter weiter verschärfen? Dazu die wichtigsten Fragen und Antworten.
In der Ukraine ist die Versorgung mit Strom und Wärme aufgrund des Krieges zum Teil sehr eingeschränkt. Werden deshalb noch mehr Menschen das Land im Winter verlassen?
Die Prognosen sind recht unterschiedlich. Der Migrationsforscher Gerald Knaus warnt vor einem historischen Fluchtwinter, sollten Städte und Energieversorgung in der Ukraine weiter zerstört werden. Millionen Menschen könnten sich auf den Weg in den Westen machen, sagte er im „Tagesspiegel“. Dagegen rechnet der Grünen-Politiker Anton Hofreiter nicht mit einer weiteren großen Fluchtbewegung aus der Ukraine. „Diejenigen, die noch da sind, machen den Eindruck, als wollten sie auch da bleiben“, sagt der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, der vergangene Woche in Kiew zu Besuch war. Nach Zahlen der Flüchtlingshilfsorganisation der Vereinten Nationen (UNHCR) haben bis November 4,7 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer einen Schutzstatus in der EU erhalten. Die meisten von ihnen halten sich in Polen auf (1,5 Millionen), an zweiter Stelle liegt Deutschland mit rund einer Million ukrainischen Flüchtlingen.
Warum nimmt auch die Zahl der Migranten auf der Balkanroute wieder zu?
Auch in anderen Ländern dieser Erde, beispielsweise in Afghanistan, hat sich die Lage in den vergangenen Monaten deutlich verschlechtert. Doch das spiegelt sich bislang nur bedingt in den Asylzahlen wider, weil es nur wenigen Tausend Menschen aus dem Nahen Osten oder aus Afghanistan gelingt, die Außengrenzen der Europäischen Union zu überwinden. Dass in Deutschland wieder mehr Asylanträge gestellt werden, hat einen anderen Grund: Viele Migranten, die bereits in Griechenland oder Bosnien waren, wollen weiter Richtung Westen. Zwischen Januar und Oktober wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) rund 160.000 Erstanträge auf Asyl in Deutschland gestellt, das sind etwa 39 Prozent mehr als im Vergleich zum Vorjahr. Mit Abstand die meisten Schutzsuchenden waren Syrer und Afghanen, gefolgt von Türken und Irakern. Mit 2015/2016 ist die derzeitige Migration über die Balkanroute dennoch nicht zu vergleichen. Damals waren innerhalb eines Jahres eine Million Menschen über die Türkei in die Europäische Union gekommen.
Welche Rolle spielt derzeit das
Mittelmeer als Migrationsroute? Mit Blick auf die Zahlen eine untergeordnete, auch wenn wieder mehr Menschen übers Mittelmeer kommen. Nach Angaben der EU-Kommission von dieser Woche sind seit Anfang dieses Jahres mehr als 90.000 Menschen über Länder wie Libyen und Tunesien in die Europäische Union gekommen. Dies entspreche einem Anstieg um mehr als 50 Prozent, heißt es in einem Aktionsplan der Brüsseler Behörde zur Bekämpfung von illegaler Migration. Die meisten dieser Migranten stammten aus Tunesien, Ägypten und Bangladesch, wollten in die EU, um Geld zu verdienen, und bräuchten keinen internationalen Schutz, so EU-Kommissarin Ylva Johansson.
Die meisten Ukrainer sind seit Monaten in Deutschland. Warum werden jetzt die Unterkünfte knapp?
Hunderttausende Ukrainer sind nach ihrer Ankunft in Deutschland erst einmal privat und provisorisch untergekommen. Doch auf längere Sicht könnten sie dort nicht bleiben, teilt Jochen Oltmer, Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle
Studien (Imis) an der Universität Osnabrück, mit. „Das war in den vergangenen Wochen schon der wesentliche Hintergrund für den vermehrten Bedarf an Notunterkünften, weniger die Zuwanderung aus der Ukraine“, sagt er. Für Bundesländer, Landkreise und Kommunen ist es eine große Herausforderung, die vielen Schutzsuchenden unterzubringen. Deshalb werden an vielen Orten beispielsweise Turnhallen wieder mit Flüchtlingen belegt, ein Provisorium, das Stadt- und Landkreise nach den Erfahrungen von 2015/2016 unbedingt vermeiden wollten.
Flüchtlinge werden nach dem Königsteiner Schlüssel auf Deutschland verteilt. Ist das sinnvoll?
Mit dem Königsteiner Schlüssel soll eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen auf die Länder erreicht werden. Die Basis dafür ist die Bevölkerungszahl und das Steueraufkommen in dem jeweiligen Bundesland. Dass Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg kommt allerdings in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die Integrationsund Beschäftigungschancen von Geflüchteten größer sein könnten, wenn bei der Verteilung weitere Faktoren berücksichtigt würden. Trotz des angespannten Wohnungsmarktes in wirtschaftsstarken Städten und Kommunen, zahle es sich langfristig aus, bei der Verteilung auch Faktoren wie die regionale Arbeitsmarktlage und das Angebot von Kinderbetreuung zu berücksichtigen, empfiehlt das IAB in einem Bericht vom Mai dieses Jahres.
Welche Vorteile hat es, dass ukrainische Geflüchtete mit Hartz IV beziehungsweise dem neuen Bürgergeld unterstützt werden? Für die Kriegsflüchtlinge hat es den Vorteil, dass sie etwas mehr Geld bekommen als Asylbewerber sowie einen einfacheren Zugang zu Sprachund Berufsvorbereitungskursen und eine bessere Gesundheitsversorgung haben. „Die Erfahrungen aus 2015 haben gezeigt, dass monatelanges Warten auf einen Aufenthaltsstatus und die damit verbundenen Arbeitshindernisse die Integration behindern“, teilt Jens Teutrine, Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion für das Bürgergeld, mit. Für den Staat bedeutet das: Die Kosten für die Flüchtlinge sind zwar pro Person erst einmal etwas höher als bei anderen Geflüchteten, aber die längerfristigen Ausgaben könnten geringer sein – wenn sie einen Job finden.
Birgt die hohe Zahl von Flüchtlingen in Deutschland gesellschaftliches Konfliktpotenzial?
Anders als in den Jahren zuvor sind die Flüchtlinge derzeit kein großes politisches Streitthema. Als beispielsweise der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz den ukrainischen Geflüchteten vor einigen Wochen „Sozialtourismus“unterstellte, wurde er von allen demokratischen Parteien heftig kritisiert – und musste sich entschuldigen. Die Politik müsse mit ihrer „Moderatorenfunktion“dafür sorgen, dass die Solidarität in der Gesellschaft erhalten bleibe, ist Migrationsforscher Oltmer überzeugt. Politisches Reden über vorgebliche „Sozialschmarotzer“sei hingegen nicht hilfreich.