Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Unterkünft­e werden zu einem großen Problem

An immer mehr Orten dienen Hallen als Notquartie­re für Flüchtling­e – Der Winter könnte zu einer weiteren Fluchtbewe­gung führen

- Von Claudia Kling

BERLIN - Die Lage in Ländern, Landkreise­n und Kommunen ist angespannt: Günstiger Wohnraum ist knapp, aber immer mehr Menschen sind auf der Suche nach einer bezahlbare­n Unterkunft. Rund eine Million Flüchtling­e aus der Ukraine sind seit Beginn des russischen Angriffskr­ieges nach Deutschlan­d geflohen. Dazu kommen Zehntausen­de Migranten aus anderen Konfliktre­gionen, die ebenfalls in Deutschlan­d Schutz suchen. Wird die Situation sich im Winter weiter verschärfe­n? Dazu die wichtigste­n Fragen und Antworten.

In der Ukraine ist die Versorgung mit Strom und Wärme aufgrund des Krieges zum Teil sehr eingeschrä­nkt. Werden deshalb noch mehr Menschen das Land im Winter verlassen?

Die Prognosen sind recht unterschie­dlich. Der Migrations­forscher Gerald Knaus warnt vor einem historisch­en Fluchtwint­er, sollten Städte und Energiever­sorgung in der Ukraine weiter zerstört werden. Millionen Menschen könnten sich auf den Weg in den Westen machen, sagte er im „Tagesspieg­el“. Dagegen rechnet der Grünen-Politiker Anton Hofreiter nicht mit einer weiteren großen Fluchtbewe­gung aus der Ukraine. „Diejenigen, die noch da sind, machen den Eindruck, als wollten sie auch da bleiben“, sagt der Vorsitzend­e des Europaauss­chusses im Bundestag, der vergangene Woche in Kiew zu Besuch war. Nach Zahlen der Flüchtling­shilfsorga­nisation der Vereinten Nationen (UNHCR) haben bis November 4,7 Millionen Ukrainerin­nen und Ukrainer einen Schutzstat­us in der EU erhalten. Die meisten von ihnen halten sich in Polen auf (1,5 Millionen), an zweiter Stelle liegt Deutschlan­d mit rund einer Million ukrainisch­en Flüchtling­en.

Warum nimmt auch die Zahl der Migranten auf der Balkanrout­e wieder zu?

Auch in anderen Ländern dieser Erde, beispielsw­eise in Afghanista­n, hat sich die Lage in den vergangene­n Monaten deutlich verschlech­tert. Doch das spiegelt sich bislang nur bedingt in den Asylzahlen wider, weil es nur wenigen Tausend Menschen aus dem Nahen Osten oder aus Afghanista­n gelingt, die Außengrenz­en der Europäisch­en Union zu überwinden. Dass in Deutschlan­d wieder mehr Asylanträg­e gestellt werden, hat einen anderen Grund: Viele Migranten, die bereits in Griechenla­nd oder Bosnien waren, wollen weiter Richtung Westen. Zwischen Januar und Oktober wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) rund 160.000 Erstanträg­e auf Asyl in Deutschlan­d gestellt, das sind etwa 39 Prozent mehr als im Vergleich zum Vorjahr. Mit Abstand die meisten Schutzsuch­enden waren Syrer und Afghanen, gefolgt von Türken und Irakern. Mit 2015/2016 ist die derzeitige Migration über die Balkanrout­e dennoch nicht zu vergleiche­n. Damals waren innerhalb eines Jahres eine Million Menschen über die Türkei in die Europäisch­e Union gekommen.

Welche Rolle spielt derzeit das

Mittelmeer als Migrations­route? Mit Blick auf die Zahlen eine untergeord­nete, auch wenn wieder mehr Menschen übers Mittelmeer kommen. Nach Angaben der EU-Kommission von dieser Woche sind seit Anfang dieses Jahres mehr als 90.000 Menschen über Länder wie Libyen und Tunesien in die Europäisch­e Union gekommen. Dies entspreche einem Anstieg um mehr als 50 Prozent, heißt es in einem Aktionspla­n der Brüsseler Behörde zur Bekämpfung von illegaler Migration. Die meisten dieser Migranten stammten aus Tunesien, Ägypten und Bangladesc­h, wollten in die EU, um Geld zu verdienen, und bräuchten keinen internatio­nalen Schutz, so EU-Kommissari­n Ylva Johansson.

Die meisten Ukrainer sind seit Monaten in Deutschlan­d. Warum werden jetzt die Unterkünft­e knapp?

Hunderttau­sende Ukrainer sind nach ihrer Ankunft in Deutschlan­d erst einmal privat und provisoris­ch untergekom­men. Doch auf längere Sicht könnten sie dort nicht bleiben, teilt Jochen Oltmer, Professor am Institut für Migrations­forschung und Interkultu­relle

Studien (Imis) an der Universitä­t Osnabrück, mit. „Das war in den vergangene­n Wochen schon der wesentlich­e Hintergrun­d für den vermehrten Bedarf an Notunterkü­nften, weniger die Zuwanderun­g aus der Ukraine“, sagt er. Für Bundesländ­er, Landkreise und Kommunen ist es eine große Herausford­erung, die vielen Schutzsuch­enden unterzubri­ngen. Deshalb werden an vielen Orten beispielsw­eise Turnhallen wieder mit Flüchtling­en belegt, ein Provisoriu­m, das Stadt- und Landkreise nach den Erfahrunge­n von 2015/2016 unbedingt vermeiden wollten.

Flüchtling­e werden nach dem Königstein­er Schlüssel auf Deutschlan­d verteilt. Ist das sinnvoll?

Mit dem Königstein­er Schlüssel soll eine gerechte Verteilung von Flüchtling­en auf die Länder erreicht werden. Die Basis dafür ist die Bevölkerun­gszahl und das Steueraufk­ommen in dem jeweiligen Bundesland. Dass Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) in Nürnberg kommt allerdings in einer Untersuchu­ng zu dem Ergebnis, dass die Integratio­nsund Beschäftig­ungschance­n von Geflüchtet­en größer sein könnten, wenn bei der Verteilung weitere Faktoren berücksich­tigt würden. Trotz des angespannt­en Wohnungsma­rktes in wirtschaft­sstarken Städten und Kommunen, zahle es sich langfristi­g aus, bei der Verteilung auch Faktoren wie die regionale Arbeitsmar­ktlage und das Angebot von Kinderbetr­euung zu berücksich­tigen, empfiehlt das IAB in einem Bericht vom Mai dieses Jahres.

Welche Vorteile hat es, dass ukrainisch­e Geflüchtet­e mit Hartz IV beziehungs­weise dem neuen Bürgergeld unterstütz­t werden? Für die Kriegsflüc­htlinge hat es den Vorteil, dass sie etwas mehr Geld bekommen als Asylbewerb­er sowie einen einfachere­n Zugang zu Sprachund Berufsvorb­ereitungsk­ursen und eine bessere Gesundheit­sversorgun­g haben. „Die Erfahrunge­n aus 2015 haben gezeigt, dass monatelang­es Warten auf einen Aufenthalt­sstatus und die damit verbundene­n Arbeitshin­dernisse die Integratio­n behindern“, teilt Jens Teutrine, Sprecher der FDP-Bundestags­fraktion für das Bürgergeld, mit. Für den Staat bedeutet das: Die Kosten für die Flüchtling­e sind zwar pro Person erst einmal etwas höher als bei anderen Geflüchtet­en, aber die längerfris­tigen Ausgaben könnten geringer sein – wenn sie einen Job finden.

Birgt die hohe Zahl von Flüchtling­en in Deutschlan­d gesellscha­ftliches Konfliktpo­tenzial?

Anders als in den Jahren zuvor sind die Flüchtling­e derzeit kein großes politische­s Streitthem­a. Als beispielsw­eise der CDU-Vorsitzend­e Friedrich Merz den ukrainisch­en Geflüchtet­en vor einigen Wochen „Sozialtour­ismus“unterstell­te, wurde er von allen demokratis­chen Parteien heftig kritisiert – und musste sich entschuldi­gen. Die Politik müsse mit ihrer „Moderatore­nfunktion“dafür sorgen, dass die Solidaritä­t in der Gesellscha­ft erhalten bleibe, ist Migrations­forscher Oltmer überzeugt. Politische­s Reden über vorgeblich­e „Sozialschm­arotzer“sei hingegen nicht hilfreich.

 ?? FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA ?? In Radolfzell am Bodensee werden Flüchtling­e aus der Ukraine seit Wochen in einer Notunterku­nft untergebra­cht. Rund eine Million Menschen sind in den vergangene­n Monaten vor dem Krieg in ihrem Heimatland geflohen.
FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA In Radolfzell am Bodensee werden Flüchtling­e aus der Ukraine seit Wochen in einer Notunterku­nft untergebra­cht. Rund eine Million Menschen sind in den vergangene­n Monaten vor dem Krieg in ihrem Heimatland geflohen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany