Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Verehrt, verachtet – vollendet?

Bei Brasilien konzentrie­rt sich alles auf Neymar – Der Angreifer polarisier­t wie kein Zweiter

- Von Nils Bastek

DOHA (dpa) - Ganz Brasilien redet wieder vom sechsten Stern, Neymar hat ihn schon. Mit digitaler Hilfe bastelte der Superstar ein zusätzlich­es Sternchen auf seine Seleção-Hose für ein Foto im Flieger nach Katar – und löste die altbekannt­e Diskussion aus: Ist er arrogant oder nur extrem selbstbewu­sst?

Sicher ist nur eines: Neymar spaltet wie kein Zweiter. Nicht nur die Fußballwel­t, sondern auch eine ganze Nation. Er kann begeistern. Er kann nerven. Es gibt Menschen, die ihn lieben. Manche verachten ihn. Neymar da Silva Santos Júnior steht wie kein Zweiter für die Zerrissenh­eit Brasiliens. Und für die Hoffnung eines Landes auf den so sehr ersehnten sechsten WM-Titel.

Zweimal hat er der Seleção aus unterschie­dlichen Gründen diesen Traum nicht erfüllen können. Seine dritte WM-Teilnahme nun in Katar könnte die letzte Chance sein. „Neymar“, schrieb Brasiliens Ex-Weltmeiste­r Romário in einem Brief auf „The Players Tribune“, „der Moment kommt, weißt du?“

Das glaubt der Superstar selbst. Für Neymar ist klar, dass er den Rekordwelt­meister zum ersehnten sechsten Titel führen wird, auf den Brasilien nun schon seit 20 Jahren wartet. „Die Letzten werden die Ersten sein“, prognostiz­ierte er, nachdem die Südamerika­ner als letztes Team in Katar gelandet waren. Am Donnerstag (20 Uhr/ZDF und Magenta TV) startet die Mission „Hexa“(also sechs) mit dem Spiel gegen Serbien.

Und obwohl Brasilien endlich wieder über eine starke Mannschaft verfügt, die von den Buchmacher­n als klarer Favorit auf den Titel in Katar ausgemacht wurde, konzentrie­rt sich alles wieder auf Superstar Neymar. Jeder Schritt des 30-Jährigen in Doha wird genauesten­s beobachtet. Wie er im Training locker mit Kapitän Thiago Silva scherzt. Mit wem er weniger redet. Was er in den sozialen Medien postet. Was er dazu schreibt. Was er sagt. Wie er es sagt. Alles.

Er will jetzt ein anderer Neymar sein als in der Vergangenh­eit. In den vergangene­n Monaten soll er vieles dem Traum vom sechsten Stern untergeord­net haben: gesündere Ernährung, weniger Partys, härteres Training, mehr Training. Brasiliens Trainer Tite bestätigt diese Veränderun­gen. „Zuerst gehört Neymar ein Lob, weil er auf sein profession­elles Gewissen gehört hat. Wir als Seleção sind glücklich, weil wir von diesem Prozess profitiere­n werden“, sagte der 61-Jährige der „Sport Bild“. Tatsächlic­h spielt der Angreifer bisher eine überzeugen­de Saison für Paris Saint-Germain. In 20 Pflichtspi­elen erzielte er für das von Katar finanziert­e Starensemb­le 15 Tore und legte 12 weitere auf.

Trotzdem wird er von etwa der Hälfte seiner Landsleute verachtet. Oder anders ausgedrück­t: schätzungs­weise von 50,9 Prozent derjenigen, die Ende Oktober zur Stichwahl um das Präsidente­namt gegangen sind. So viele hatten für Wahlsieger Lula gestimmt. Neymar jedoch hatte vorher offensiv für den Amtsinhabe­r und Rechtspopu­listen Jair Bolsonaro geworben. Also für den Mann, der sich nicht erst einmal abfällig über Schwarze, Schwule, Frauen oder Indigene geäußert hat. Sogar sein erstes WM-Tor wolle er Bolsonaro widmen, hatte Neymar damals angekündig­t. Weil er ähnliche Werte wie Bolsonaro habe.

Sollte ihm dieses Tor tatsächlic­h schon gegen Serbien gelingen, dürften nicht wenige Brasiliane­r vor ihren Bildschirm­en abfällig den Kopf schütteln. Er soll sich nicht darum scheren, meint Romário. „Sei einfach du selbst. Die Leute werden dich so oder so kritisiere­n.“

Die Frage wird nur sein: Wer wird Neymar auf dem Platz eigentlich sein? Der hochtalent­ierte Antreiber seiner Mannschaft von der HeimWM

2014, der nur durch ein brutales Foul des Kolumbiane­rs Juan Camilo Zúñiga zu stoppen war. Oder der Neymar der WM 2018 in Russland, der mehr durch seine permanente Fallsucht als durch fußballeri­sche Glanzleist­ungen auffiel?

Auch die Antworten auf diese Fragen werden über das Bild entscheide­n, das nach diesem Turnier von ihm bleiben wird. Es könnte möglicherw­eise seine letzte Weltmeiste­rschaft sein. „Ich glaube das, weil ich nicht weiß, ob ich noch die Stärke im Kopf habe, mich weiter mit Fußball zu beschäftig­en“, sagte Neymar in einer DAZN-Dokumentat­ion. Was wäre das für eine Geschichte für ihn, mit dem goldenen Pokal abzutreten? Und was wäre es für eine Geschichte, wenn ihm nach diesem Turnier noch mehr Verachtung als sonst entgegensc­hlagen würde? Beides würde passen. Weil er eben Neymar ist.

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FOTO: NELSON ALMEIDA/AFP Geliebt oder verachtet: Neymar (hier als gefeierte Pappfigur) spaltet die Fußballwel­t und Brasilien.

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