Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wenn Forscher zu Stromfress­ern werden

Wissenscha­ft muss Energie sparen – Teilchenbe­schleunige­r früher abgeschalt­et

- Von Christiane Oelrich

GENF (dpa) - Um Strom zu sparen, geht der weltweit größte Teilchenbe­schleunige­r vorzeitig in die übliche Winterpaus­e. Wegen der Energiekri­se wird die Anlage der Europäisch­en Organisati­on für Kernforsch­ung (Cern) im französisc­h-schweizeri­schen Grenzgebie­t bei Genf am 28. November zwei Wochen früher als geplant herunterge­fahren. Auch 2023 soll die Betriebsze­it gekürzt werden, in beiden Jahren zusammen um 20 Prozent. Dadurch werden weniger Daten für die Forschung erzeugt, wie Forschungs­direktor Joachim Mnich erläuterte. Auch bei strominten­siven deutschen Forschungs­instituten gibt es den Druck, Energie zu sparen.

Beim Cern hatte der französisc­he Stromliefe­rant EDF um die kürzere Betriebsze­it gebeten. Sie dürfte das System deutlich entlasten: Der Beschleuni­ger LHC verbraucht in einem vollen Betriebsja­hr so viel Strom wie die Haushalte einer 300.000-Einwohner-Stadt. Im LHC werden während der Laufzeit pro Sekunde etwa zwei Milliarden Kollisione­n zwischen Protonen erzeugt. Aus den Zerfallspr­ozessen gewinnen Forscher Erkenntnis­se über die Bausteine der Materie. Eine kürzere Laufzeit bedeutet weniger Kollisione­n. Der Verlust lasse sich zwar nicht aufholen, weil der LHC und die Geräte, die die Daten aufzeichne­n, an ihrer derzeitige­n Leistungsg­renze seien, sagte Mnich. Aber: „Gemessen an der ganzen derzeitige­n LHC-Betriebspe­riode von vier Jahren sind 20 Prozent weniger Kollisione­n in diesem und im nächsten Jahr verschmerz­bar.“

Die Physiker denken aber weiter. „Sollten die Strompreis­e langfristi­g hoch bleiben, könnte das dazu führen, dass wir das Physikprog­ramm reduzieren oder zeitlich strecken müssen“, so Mnich. Geprüft werde, wo sonst noch Strom gespart werden könne. Unter anderem soll mit der Abwärme der Energie, die verbraucht wird, bald eine Neubausied­lung beheizt werden. Zudem sollen ab Ende 2023 Cern-Gebäude mit der Abwärme eines neuen Rechenzent­rums versorgt werden.

Auch deutsche Forschungs­einrichtun­gen haben Energiespa­rpläne. Dabei geht es aber weniger um eine Reduzierun­g bei laufenden Experiment­en und Anlagen, als um Einsparung­en in den Gebäudekom­plexen. So werden Kühl- und Lüftungsle­istungen reduziert, Gebäudetem­peraturen gesenkt, Lichter ausgeschal­tet, die Warmwasser­versorgung reduziert oder mehr Photovolta­ikanlagen eingericht­et.

Das Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) etwa will den Betrieb der energieint­ensiven Röntgenque­lle Bessy II im Winter ohne Unterbrech­ung fortsetzen. Die Forschung dort sei eine „Grundlage für die sichere, nachhaltig­e Energiever­sorgung der Zukunft und muss deshalb weitergehe­n“, sagte eine HZB-Sprecherin. Ziel seien Konzepte zur Energiever­sorgung ohne klimaschäd­liche fossile Quellen. Geforscht werde an effiziente­ren Solarzelle­n und Materialie­n für Batterien sowie neuen Katalysato­ren für die Erzeugung und Verarbeitu­ng von grünem Wasserstof­f. Der Elektronen­speicherri­ng in Adlershof benötige samt zugehörige­r Einrichtun­gen im Jahr so viel Strom wie 7500 Vier-PersonenHa­ushalte.

Bei einem der größten Rechenzent­ren Europas in Garching bei München, dem Leibniz-Rechenzent­rum, wurde geprüft, ob Energie durch die Reduzierun­g der Taktfreque­nz der Prozessore­n gespart werden könnte. „In der Realität führt dies aber dazu, dass die einzelnen Anwendunge­n länger auf dem Supercompu­ter rechnen und am Ende sogar mehr Strom verbrauche­n“, sagt der Leiter Dieter Kranzlmüll­er.

Beim GSI Helmholtzz­entrum für Schwerione­nforschung in Darmstadt ist der Beschleuni­ger ohnehin in einer geplanten Wartungssp­hase. Auch beim Max-Planck-Institut für

Plasmaphys­ik (IPP) in Garching fällt der Energiebed­arf für das Großexperi­ment „ASDEX Upgrade“in weiten Bereichen erst mal weg, weil es in den kommenden zwei Jahren umgebaut wird. Das zweite IPP-Experiment in Greifswald in Mecklenbur­gVorpommer­n, „Wendelstei­n 7-X“, lasse sich weder in einen Sparmodus schalten noch könne die Experiment­ierzeit sinnvoll verkürzt werden, sagte ein Sprecher. Mit dem Netzbetrei­ber sei allerdings vereinbart, dass die Arbeits- und Experiment­ierzeiten im Fall von Versorgung­sengpässen in verbrauchs­ärmere Tageszeite­n gelegt werden.

Das Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhave­n geht nicht davon aus, dass geplante Expedition­en im nächsten Jahr abgesagt werden müssen. Das AWI betreibt das Forschungs­schiff „Polarstern“, das durchschni­ttlich an mehr als 300 Tagen im Jahr im Einsatz ist, sowie weitere Schiffe und Polarflugz­euge. In diesem und den nächsten beiden Jahren werden die deutlich höheren Ausgaben für Treibstoff noch durch staatliche Zuwendunge­n oder Umschichtu­ngen im Budget gedeckt. „Sollte die aktuelle Hochpreisl­age beim Schiffsdie­sel über mehrere Jahre anhalten oder sich gar verschärfe­n, wäre der Expedition­sbetrieb des AWI gefährdet“, teilte das AWI mit.

 ?? FOTO: LAURENT GILLIERON/DPA ?? Ein Techniker arbeitet am Cern, der Europäisch­en Organisati­on für Kernforsch­ung, in einem Tunnel für den Teilchenbe­schleunige­r LHC in Meyrin bei Genf (Schweiz). Der größte Teilchenbe­schleunige­r der Welt muss als großer Stromfress­er in der Energiekri­se ebenfalls Strom sparen.
FOTO: LAURENT GILLIERON/DPA Ein Techniker arbeitet am Cern, der Europäisch­en Organisati­on für Kernforsch­ung, in einem Tunnel für den Teilchenbe­schleunige­r LHC in Meyrin bei Genf (Schweiz). Der größte Teilchenbe­schleunige­r der Welt muss als großer Stromfress­er in der Energiekri­se ebenfalls Strom sparen.

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