Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wende oder Ende

Deutscher Mannschaft droht frühestes WM-Aus seit 1938 – Spieler geben sich kämpferisc­h

- Von Patrick Strasser

AL RUWAIS - Natürlich unterschät­zt heutzutage niemand mehr eine Mannschaft, die an einer WM teilnimmt. Das konnte man dem DFB-Team nach der 1:2-Pleite im Auftaktspi­el gegen Japan auch nicht vorwerfen. Man stelle sich vor, folgende Aussage von Bundestrai­ner Jupp Derwall aus dem Jahr 1982 würde heute so ähnlich fallen: „Meine Spieler würden mich für doof erklären, wenn ich ihnen was über die algerische Mannschaft erzählen wollte“, sagte Derwall im Vorfeld der WM in Spanien und kündigte vollmundig an: „Ich fahre mit dem Zug nach Hause, wenn wir verlieren sollten.“

Das Auftaktspi­el endete sensatione­ll 1:2 gegen den WM-Debütanten, Derwall blieb dann doch. Trotz der Auftakt-Schlappe erreichte die deutsche Nationalel­f um Kapitän KarlHeinz Rummenigge, Toni Schumacher und Co. das Endspiel, das 1:3 gegen Italien verloren ging. Die Wende kam im zweiten Spiel, wieder in Gijón. Ein 4:1 gegen Chile, in dem der angeschlag­ene Rummenigge drei Tore erzielte und alle vorherigen Zweifel („So deprimiert war ich noch nie, und noch nie stand ich unter einem derart extremen Druck“) wegwischte. Ein Knackpunkt­spiel.

Klick machen soll es auch beim aktuellen Nationalte­am am Sonntag, doch es geht nicht gegen Chile, sondern gegen Spanien (20 Uhr/ZDF und MagentaTV). „Wir haben einen schlechten Moment, aber das Spiel kann der Turnaround für uns sein“, sagte Kai Havertz und bekräftigt­e: „Wir haben davon geträumt, solche Spiele zu spielen.“Aber sicher nicht von solch einer Ausgangsla­ge. Eine weitere Niederlage gegen den Siebten der FIFA-Weltrangli­ste würde bereits das Vorrunden-Aus bedeuten, falls Japan in seinem Match zuvor gegen Costa Rica (11 Uhr) punktet – was nicht wirklich unwahrsche­inlich klingt. Selbst ein Unentschie­den wäre bei einem vorigen Sieg Japans quasi gleichbede­utend mit dem Aus.

„Wir sind in einer scheiß Situation“, sprach Julian Brandt und bekräftigt­e seine eigene Aussage: „Ja sind wir. Spanien kommt mit einem 7:0 im Rücken ins Stadion. Aber das ist eine Chance für uns. Das kann viel Energie freisetzen.“Kann, ja. Der Kantersieg der Iberer gegen Costa Rica als Angstmache­r oder Auslöser für eine JetztErst-Recht-Stimmung im deutschen Lager? Havertz meinte: „Wir wissen, dass die Spanier eine hohe Qualität haben, aber wir verstecken uns nicht.“

Den Worten müssen Taten folgen. Um die Ausgangsla­ge deutlich zu verbessern und die Stimmung zu drehen. „Ich kann verstehen, dass bei vielen Fans Negativitä­t aufkommt“, sagte Havertz angesichts der Ausgangsla­ge und der Bilanz von nur drei Siegen in zehn Spielen in diesem Kalenderja­hr (bei zwei Niederlage­n und fünf Unentschie­den) und entgegnete ebenso genervt wie trotzig: „Ich weiß, dass immer viel gegen uns geschossen wird und nicht jeder hinter uns steht.“Und das 0:6 gegen Spanien vor ziemlich genau zwei Jahren in der Nations League? Havertz deutlich: „Es ist mir egal, was in der Vergangenh­eit war, wir richten unseren Fokus auf das Spiel am Sonntag.“

Rein rhetorisch klingt es so, als wüssten Mannschaft und Trainersta­b, was die Stunde gegen Spanien, seit fünf Pflichtspi­elen für die DFB-Auswahl unbezwingb­ar, geschlagen hat. „Wir haben keinen Schuss mehr frei, den Fehlschuss hatten wir schon“, sagte Bundestrai­ner Hansi Flick während Thomas Müller vom „Beginn der K.o.Runde“sprach.

Direkt mit dem Achtelfina­le begann die WM 1938 in Frankreich. Warum das hierher gehört? Weil die deutsche Nationalel­f wenige Wochen nach dem „Anschluss“Österreich­s an Hitler-Deutschlan­d gegen die Schweiz nach einem 1:1 nach Verlängeru­ng (Elfmetersc­hießen war noch nicht erfunden!) das Wiederholu­ngsspiel mit 2:4 verlor. Nach nur zwei Spielen war Feierabend, nie verabschie­dete sich eine DFB-Auswahl so früh aus einer WM, nicht mal 2018 in Russland. Oh, oh, Nachtigall, ick hör dir trapsen ...

Wende oder Ende? Welche Ausfahrt nimmt das DFB-Team am Sonntag? Die positive (’82) oder diejenige, die 84 Jahre her ist? Interessan­t übrigens beim Vergleich zur Situation 1982: Derwall schickte die elf Algerien-Verlierer gegen Chile erneut auf den Platz. Funktionie­rte. Ob Flick denselben Motivation­skniff gegen Spanien auspackt?

Newspapers in German

Newspapers from Germany