Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Ein Plan und hundert offene Fragen
Europas größtes Stahlwerk soll mit grünem Wasserstoff klimafreundlich werden – Die Herausforderungen sind riesig
DUISBURG - Gefräßig ist der Koloss. Die rostgrauen Frachtkähne drängeln sich im Hafenbecken. Wieder wird einer an die metallene Kaimauer geschoben. Arbeiter in gelben Jacken machen ihn mit Stahltrossen fest. Dann rollt oben auf Schienen der Kranbagger heran, um das Eisenerz auszuladen und es auf die Halde zu kippen. Vielleicht 15 Meter hoch ist diese und 100 Meter lang. Eine solche Menge stillt den Hunger des Stahlwerkes für etwa eine Woche.
Auf dem gegenüberliegenden linken Ufer türmen sich ähnliche Mengen Steinkohle. Dahinter steht der schwarze Turm der Kokerei, die Kohle zu Koks veredelt – dem Brennstoff, ohne den die Stahlproduktion nicht funktioniert. Und doch sollen die Berge auf dieser Seite des Hafenbeckens in den kommenden Jahren verschwinden. Links muss weg, rechts darf bleiben. Aber wie schmilzt man Erz ohne Kohle? Das ist das Problem, das Thyssenkrupp lösen muss, wenn das größte Stahlwerk Europas in Duisburg überleben will.
Denn Kohle verursacht Kohlendioxid (CO2) – schlecht für das Klima. Wenn man jedoch Wasserstoff einsetzt, der mit Ökostrom gewonnen wurde, entsteht im Zuge der Stahlproduktion kein CO2 mehr, sondern am Ende nur noch Wasserdampf. „Wasserstoff ist die neue Kohle“, sagt Bettina Hübschen, rötliche Haare, runde Brille. Sie hat in den 1990erJahren an der Technischen Hochschule Aachen Metallurgie studiert und über Nichteisenmetalle promoviert. Seit 2007 ist sie bei Thyssenkrupp Steel. Etwa 50 Leute arbeiten unter ihrer Führung an der klimafreundlichen Transformation des Stahlwerks, dem Ersatz von Kohle durch Wasserstoff.
Um zum Hochofen zu kommen, dauert es auch im Auto ein bisschen. Das Industrieareal nördlich der Duisburger Innenstadt belegt eine Fläche fünf Mal so groß wie der Kleinstaat Monaco – Kraftwerke, rauchende Schornsteine, kilometerlange Leitungen auf Trägern über und neben den Straßen, verrußte Hallen, so groß, dass Schiffe reinpassen – ab und zu aber auch mal eine Wiese mit Bäumen.
Das kantige Herz des Werkes ragt Dutzende Meter in die Höhe, rötlich verkleidet, eingerahmt von einem Labyrinth
aus Schloten, Röhren und Metallkonstruktionen. Hier wird das Eisenerz geschmolzen, die Lava des glühenden Stahls fließt heraus. Solche Höllenmaschinen müssen komplett ersetzt werden, damit die Schmelze mit Wasserstoff funktioniert.
Dass das passiert, hat der Konzern schon entschieden. 2026 soll der erste Ofen umgestellt sein. Das sind nur drei bis vier Jahre. Noch in diesem Jahr will man die Aufträge an die Anlagenbauer vergeben. „Da darf nichts dazwischenkommen“, sagt Bettina Hübschen und schnauft ein bisschen.
Über zwei Milliarden Euro soll das Vorhaben kosten – allerdings nicht nur Geld von Thyssenkrupp, sondern auch vom Staat. „Anfangs rechnet sich die Produktion ohne Förderung nicht“, heißt es beim Unternehmen. Um welche Subventionen es geht, wird nicht verraten. Man kann jedoch vermuten, dass sich die Verhandlungen um etwa eine Milliarde Euro drehen, rund die Hälfte der Investitionskosten. Eine vergleichbare Summe soll die Salzgitter AG für den ähnlichen Umbau ihres Stahlwerkes bekommen.
Das Ganze ist ein gigantisches Experiment, nicht nur ein unternehmerisches, sondern auch ein gesellschaftliches. Denn die Lage sieht so aus: Die künftige Produktionskette für grünen Wasserstoff ist noch nicht geschlossen. Nur isolierte Elemente sind vorhanden, und teilweise noch nicht einmal die. Nötig sind zusätzliche, sehr große Wind- und Solarkraftwerke; Entsalzungsanlagen, falls der Wasserstoff aus Meerwasser gewonnen wird; Elektrolyseure, die Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff spalten; Fabriken zur Verflüssigung des Wasserstoffs, wenn er über große Entfernungen transportiert werden muss; Anlagen, um ihn in Gas zurückzuverwandeln. Problematisch ist dabei unter anderem, dass der Energieverlust zunimmt, je öfter man den Wasserstoff umwandelt. Auch die Kosten steigen damit erheblich.
Aber funktioniert Wasserstoff (H2) in der Stahlproduktion überhaupt? Die Technikerinnen und Techniker sind optimistisch, dass es klappt. Doch heute sei vieles noch Theorie, meint Hübschen. Denn nirgendwo auf der Welt gibt es bisher eine großtechnische Stahlproduktion auf H2-Basis. „Wie bauen erst mal eine Versuchsanlage“, erklärt die Thyssenkrupp-Managerin, „die soll 2024 fertig sein.“Alles Mögliche kann auf dem Weg dorthin passieren.
Hinzu kommen weitere Fragen, die ebenfalls nicht unwichtig sind. Woher sollen die großen Mengen grünen Wasserstoffs kommen? Das
Duisburger Unternehmen kooperiert unter anderem mit den Energiekonzernen RWE, BP und Shell. Der Stromerzeuger Steag prüft den Bau eines Elektrolyseurs in Duisburg. Trotzdem ist klar, dass der größte Teil des hierzulande benötigten grünen Wasserstoffs importiert werden muss. Deutschland hat einfach nicht genug Platz für die vielen Wind- und Solarparks. Deshalb strebt die Bundesregierung eine Zusammenarbeit unter anderem mit Australien, Neuseeland, Kanada, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien an. Aber nichts ist bisher ausbuchstabiert oder sicher.
Schließlich: Wie soll der grüne Wasserstoff beispielsweise zu Thyssenkrupp gelangen? Ideal wären Pipelines. Aber die existierenden Gasleitungen etwa zu niederländischen Häfen müssen erst umgebaut werden. Für eine Verbindung zum Hamburger Hafen fehlt ebenfalls noch ein gutes Stück. Werden diese Trassen rechtzeitig fertig, angesichts der Dauer der hiesigen Genehmigungsverfahren?
Insgesamt geht es um nicht weniger als „eine neue industrielle Revolution“, sagt Bettina Hübschen. Der Zeitraum dafür beträgt fünf bis zehn Jahre, wenn ab 2026 allmählich grüner Wasserstoff in zunehmenden Mengen bei der Stahlproduktion eine Rolle spielen soll. Ist das nicht ein bisschen knapp für eine industrielle Revolution? Die erste dauerte ungefähr das ganze 19. Jahrhundert. Die digitale Revolution ist auch schon seit 50 Jahren unterwegs. Hübschen jedoch ist unverdrossen: „Unsere Investition in den Hochofen ist ein Startschuss.“Ein paar Unternehmen müssten einfach anfangen, selbst wenn nicht alle Fragen geklärt seien, meint die Managerin. Nur dann sähen Lieferanten, Partner, Kunden und Investoren, dass die Theorie ernst gemeint sei und würden ebenfalls loslegen.
Das ist die optimistische Variante. Die pessimistische Frage lautet: Verlangt die Klimapolitik Veränderungen, die so schnell kaum zu schaffen sind? 65 Prozent Treibhausgas-Reduzierung bis 2030 will die Bundesregierung erreichen – da schnauft nicht nur die Thyssenkrupp-Technikerin. Es herrscht eine Mischung aus Tatendrang und Ratlosigkeit. Vielleicht wird daraus tatsächlich eine industrielle Revolution.