Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Ein Plan und hundert offene Fragen

Europas größtes Stahlwerk soll mit grünem Wasserstof­f klimafreun­dlich werden – Die Herausford­erungen sind riesig

- Von Hannes Koch

DUISBURG - Gefräßig ist der Koloss. Die rostgrauen Frachtkähn­e drängeln sich im Hafenbecke­n. Wieder wird einer an die metallene Kaimauer geschoben. Arbeiter in gelben Jacken machen ihn mit Stahltross­en fest. Dann rollt oben auf Schienen der Kranbagger heran, um das Eisenerz auszuladen und es auf die Halde zu kippen. Vielleicht 15 Meter hoch ist diese und 100 Meter lang. Eine solche Menge stillt den Hunger des Stahlwerke­s für etwa eine Woche.

Auf dem gegenüberl­iegenden linken Ufer türmen sich ähnliche Mengen Steinkohle. Dahinter steht der schwarze Turm der Kokerei, die Kohle zu Koks veredelt – dem Brennstoff, ohne den die Stahlprodu­ktion nicht funktionie­rt. Und doch sollen die Berge auf dieser Seite des Hafenbecke­ns in den kommenden Jahren verschwind­en. Links muss weg, rechts darf bleiben. Aber wie schmilzt man Erz ohne Kohle? Das ist das Problem, das Thyssenkru­pp lösen muss, wenn das größte Stahlwerk Europas in Duisburg überleben will.

Denn Kohle verursacht Kohlendiox­id (CO2) – schlecht für das Klima. Wenn man jedoch Wasserstof­f einsetzt, der mit Ökostrom gewonnen wurde, entsteht im Zuge der Stahlprodu­ktion kein CO2 mehr, sondern am Ende nur noch Wasserdamp­f. „Wasserstof­f ist die neue Kohle“, sagt Bettina Hübschen, rötliche Haare, runde Brille. Sie hat in den 1990erJahr­en an der Technische­n Hochschule Aachen Metallurgi­e studiert und über Nichteisen­metalle promoviert. Seit 2007 ist sie bei Thyssenkru­pp Steel. Etwa 50 Leute arbeiten unter ihrer Führung an der klimafreun­dlichen Transforma­tion des Stahlwerks, dem Ersatz von Kohle durch Wasserstof­f.

Um zum Hochofen zu kommen, dauert es auch im Auto ein bisschen. Das Industriea­real nördlich der Duisburger Innenstadt belegt eine Fläche fünf Mal so groß wie der Kleinstaat Monaco – Kraftwerke, rauchende Schornstei­ne, kilometerl­ange Leitungen auf Trägern über und neben den Straßen, verrußte Hallen, so groß, dass Schiffe reinpassen – ab und zu aber auch mal eine Wiese mit Bäumen.

Das kantige Herz des Werkes ragt Dutzende Meter in die Höhe, rötlich verkleidet, eingerahmt von einem Labyrinth

aus Schloten, Röhren und Metallkons­truktionen. Hier wird das Eisenerz geschmolze­n, die Lava des glühenden Stahls fließt heraus. Solche Höllenmasc­hinen müssen komplett ersetzt werden, damit die Schmelze mit Wasserstof­f funktionie­rt.

Dass das passiert, hat der Konzern schon entschiede­n. 2026 soll der erste Ofen umgestellt sein. Das sind nur drei bis vier Jahre. Noch in diesem Jahr will man die Aufträge an die Anlagenbau­er vergeben. „Da darf nichts dazwischen­kommen“, sagt Bettina Hübschen und schnauft ein bisschen.

Über zwei Milliarden Euro soll das Vorhaben kosten – allerdings nicht nur Geld von Thyssenkru­pp, sondern auch vom Staat. „Anfangs rechnet sich die Produktion ohne Förderung nicht“, heißt es beim Unternehme­n. Um welche Subvention­en es geht, wird nicht verraten. Man kann jedoch vermuten, dass sich die Verhandlun­gen um etwa eine Milliarde Euro drehen, rund die Hälfte der Investitio­nskosten. Eine vergleichb­are Summe soll die Salzgitter AG für den ähnlichen Umbau ihres Stahlwerke­s bekommen.

Das Ganze ist ein gigantisch­es Experiment, nicht nur ein unternehme­risches, sondern auch ein gesellscha­ftliches. Denn die Lage sieht so aus: Die künftige Produktion­skette für grünen Wasserstof­f ist noch nicht geschlosse­n. Nur isolierte Elemente sind vorhanden, und teilweise noch nicht einmal die. Nötig sind zusätzlich­e, sehr große Wind- und Solarkraft­werke; Entsalzung­sanlagen, falls der Wasserstof­f aus Meerwasser gewonnen wird; Elektrolys­eure, die Wasser in Sauerstoff und Wasserstof­f spalten; Fabriken zur Verflüssig­ung des Wasserstof­fs, wenn er über große Entfernung­en transporti­ert werden muss; Anlagen, um ihn in Gas zurückzuve­rwandeln. Problemati­sch ist dabei unter anderem, dass der Energiever­lust zunimmt, je öfter man den Wasserstof­f umwandelt. Auch die Kosten steigen damit erheblich.

Aber funktionie­rt Wasserstof­f (H2) in der Stahlprodu­ktion überhaupt? Die Technikeri­nnen und Techniker sind optimistis­ch, dass es klappt. Doch heute sei vieles noch Theorie, meint Hübschen. Denn nirgendwo auf der Welt gibt es bisher eine großtechni­sche Stahlprodu­ktion auf H2-Basis. „Wie bauen erst mal eine Versuchsan­lage“, erklärt die Thyssenkru­pp-Managerin, „die soll 2024 fertig sein.“Alles Mögliche kann auf dem Weg dorthin passieren.

Hinzu kommen weitere Fragen, die ebenfalls nicht unwichtig sind. Woher sollen die großen Mengen grünen Wasserstof­fs kommen? Das

Duisburger Unternehme­n kooperiert unter anderem mit den Energiekon­zernen RWE, BP und Shell. Der Stromerzeu­ger Steag prüft den Bau eines Elektrolys­eurs in Duisburg. Trotzdem ist klar, dass der größte Teil des hierzuland­e benötigten grünen Wasserstof­fs importiert werden muss. Deutschlan­d hat einfach nicht genug Platz für die vielen Wind- und Solarparks. Deshalb strebt die Bundesregi­erung eine Zusammenar­beit unter anderem mit Australien, Neuseeland, Kanada, den Vereinigte­n Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien an. Aber nichts ist bisher ausbuchsta­biert oder sicher.

Schließlic­h: Wie soll der grüne Wasserstof­f beispielsw­eise zu Thyssenkru­pp gelangen? Ideal wären Pipelines. Aber die existieren­den Gasleitung­en etwa zu niederländ­ischen Häfen müssen erst umgebaut werden. Für eine Verbindung zum Hamburger Hafen fehlt ebenfalls noch ein gutes Stück. Werden diese Trassen rechtzeiti­g fertig, angesichts der Dauer der hiesigen Genehmigun­gsverfahre­n?

Insgesamt geht es um nicht weniger als „eine neue industriel­le Revolution“, sagt Bettina Hübschen. Der Zeitraum dafür beträgt fünf bis zehn Jahre, wenn ab 2026 allmählich grüner Wasserstof­f in zunehmende­n Mengen bei der Stahlprodu­ktion eine Rolle spielen soll. Ist das nicht ein bisschen knapp für eine industriel­le Revolution? Die erste dauerte ungefähr das ganze 19. Jahrhunder­t. Die digitale Revolution ist auch schon seit 50 Jahren unterwegs. Hübschen jedoch ist unverdross­en: „Unsere Investitio­n in den Hochofen ist ein Startschus­s.“Ein paar Unternehme­n müssten einfach anfangen, selbst wenn nicht alle Fragen geklärt seien, meint die Managerin. Nur dann sähen Lieferante­n, Partner, Kunden und Investoren, dass die Theorie ernst gemeint sei und würden ebenfalls loslegen.

Das ist die optimistis­che Variante. Die pessimisti­sche Frage lautet: Verlangt die Klimapolit­ik Veränderun­gen, die so schnell kaum zu schaffen sind? 65 Prozent Treibhausg­as-Reduzierun­g bis 2030 will die Bundesregi­erung erreichen – da schnauft nicht nur die Thyssenkru­pp-Technikeri­n. Es herrscht eine Mischung aus Tatendrang und Ratlosigke­it. Vielleicht wird daraus tatsächlic­h eine industriel­le Revolution.

 ?? FOTO: RUPERT OBERHÄUSER/IMAGO ?? Ein Stahlarbei­ter von Thyssenkru­pp entnimmt eine 1500 Grad heiße Roheisenpr­obe beim Abstich am Hochofen 8 in Duisburg: 2026 soll der erste Hochofen von Steinkohle auf Wasserstof­f umgestellt sein.
FOTO: RUPERT OBERHÄUSER/IMAGO Ein Stahlarbei­ter von Thyssenkru­pp entnimmt eine 1500 Grad heiße Roheisenpr­obe beim Abstich am Hochofen 8 in Duisburg: 2026 soll der erste Hochofen von Steinkohle auf Wasserstof­f umgestellt sein.

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