Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Brüssel gegen Budapest

EU-Kommission droht Ungarn mit Entzug von Fördermill­iarden – Regierung Orbán stur

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Es bleibt spannend bis zur letzten Minute. Am heutigen Mittwoch wird die EU-Kommission bekannt geben, ob sie einen großen Teil der für Ungarn vorgesehen­en Fördermitt­el einfriert. In Rede stehen bis zu 13,3 Milliarden Euro. Bis zum 19. November hätte die Regierung von Victor Orbán „grundlegen­de“Reformen umsetzen müssen – dabei geht es hauptsächl­ich darum, die Unabhängig­keit der Justiz wieder herzustell­en. Das ist nach Einschätzu­ng der Brüsseler Beamten aber nicht geschehen.

Schon vor zehn Jahren hatte der Europarat beklagt, dass die mit absoluter Mehrheit regierende FideszPart­ei immer stärker in die Gerichtsba­rkeit eingreift und zum Beispiel durch eine der Partei nahestehen­de Präsidenti­n des Nationalen Richteramt­s Einfluss auf die Personalpo­litik in der Justiz nehmen kann. Schon damals hatte auch die EU-Kommission Mahnungen in Richtung Budapest geschickt. Die blieben aber zahnlos, weil ein Verfahren, um Ungarn die Stimmrecht­e im Rat zu entziehen, ein sogenannte­s Artikel-7-Verfahren, nicht die erforderli­che Einstimmig­keit gefunden hätte.

Zwei Dinge haben sich seither geändert, die es für den selbstbewu­ssten und gern provoziere­nden Orbán zunehmend ungemütlic­h machen: Es gibt ein neues „Rechtsstaa­tsverfahre­n“, bei dem die Regierunge­n mit qualifizie­rter Mehrheit entscheide­n können, Gelder aus dem EU-Budget einzufrier­en. Zudem verließen Anfang März 2021 die zwölf Fidesz-Abgeordnet­en im Europaparl­ament die konservati­ve EVP-Fraktion. Seither halten sich auch CDU-Europapoli­tiker nicht mehr mit Kritik an Orbán zurück. Eine Resolution, in der die Kommission aufgeforde­rt wird, die Gelder nicht auszuzahle­n, wurde letzte Woche im Plenum von einer überwältig­enden Mehrheit unterstütz­t. 416 Abgeordnet­e befürworte­ten den Antrag, nur 124 stimmten dagegen, 33 enthielten sich.

Die EU-Kommission kann sich an diesem Dienstag darauf beschränke­n, „nur“die Mittel aus dem Corona-Fördertopf einzufrier­en, das wären immerhin schon 5,8 Milliarden Euro. Oder sie kann zusätzlich Mittel aus dem regulären Budget zurückhalt­en – Insider sprechen von 65 Prozent der Ungarn bis 2027 zustehende­n Summe, das wären weitere 7,5 Milliarden Euro. 2023 will das Land knapp 80 Milliarden Euro ausgeben und seine Neuverschu­ldung deutlich senken. Diese Pläne würden mit Sicherheit durchkreuz­t, wenn Brüssel Ernst macht. Angesichts stark steigender Kreditzins­en und eines jetzt schon an Wert verlierend­en Forint sind die ökonomisch­en Aussichten für ungarns Wirtschaft eher düster.

Die Finanzmini­ster könnten noch vor Weihnachte­n den Kommission­svorschlag mit qualifizie­rter Mehrheit annehmen. Nötig wären 15 Staaten, die zusammen 65 Prozent der europäisch­en Bevölkerun­g repräsenti­eren. Zwei große Länder allerdings haben bereits ihr Veto angekündig­t: Polen und Italien. Hinzu kommt, dass Orbán in den Bereichen, wo einstimmig entschiede­n werden muss, also vor allem in außenpolit­ischen und steuerlich­en Fragen, sein Drohpotenz­ial offen ausspielt. Sollte er sein Geld nicht bekommen, will er wichtige Handlungsf­elder der EU blockieren.

Ukraines Außenminis­ter Dmytro Kuleba beklagte am Montagaben­d im Interview mit „Politico“, sein Land werde zur Geisel dieses innereurop­äischen Konflikts. Mehrfach hatte Orbán die Sanktionen gegen Russland infrage gestellt und betont, Ungarn

werde keine Opfer bringen, um die Ukraine zu unterstütz­en. Vorletzten Sonntag hatte er für Empörung gesorgt, weil er bei einem Fußballspi­el einen Schal trug, der sein Land in den Grenzen vor 1918 zeigt, als Teile des Balkans, Österreich­s und der Ukraine noch zu Ungarn gehörten.

Neben einem neuen Paket an Sanktionen gegen Russland steht auch die große Unternehme­nssteuerre­form auf dem Spiel, die mehr als 130 Länder im vergangene­n Jahr vereinbart hatten. Mit einem „europäisch­en Regelwerk für Unternehme­nsbesteuer­ung“will sie Wirtschaft­skommissar Paolo Gentiloni in der EU umsetzen. Geplant ist, dass grenzübers­chreitende Firmen ihre Gewinne künftig nicht mehr am Firmensitz versteuern, sondern dort, wo das Geschäft getätigt wird. Ferner soll eine EU-weite Körperscha­ftssteuer von mindestens 15 Prozent den nationalen Flickentep­pich ersetzen. Gegen diesen Mindestste­uersatz haben sowohl Polen als auch Ungarn ihr Veto angekündig­t. Victor Orbán weiß genau, dass die EU in diesen angespannt­en Zeiten besonders erpressbar ist. Gegenüber Russlands Regierungs­chef Wladimir Putin möchte sich die Gemeinscha­ft so geschlosse­n wie möglich zeigen. In seiner russlandfr­eundlichen Haltung allerdings steht Orbán in Osteuropa ziemlich isoliert da. Gerade Polen drängt auf einen harten Kurs und zeigt sich zu hundert Prozent solidarisc­h mit der Ukraine.

All diese Konfliktli­nien und möglichen Bündnisse muss die EU-Kommission im Blick behalten, wenn sie ihre Entscheidu­ng trifft, das Rechtsstaa­tsverfahre­n voranzutre­iben. Die Regierunge­n in Polen und Italien werden alles ganz genau verfolgen – denn sie könnten die nächsten sein.

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FOTO: NICOLAS MAETERLINC­K/IMAGO Tritt in Brüssel selbstbewu­sst auf: Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán.

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