Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Brüssel gegen Budapest
EU-Kommission droht Ungarn mit Entzug von Fördermilliarden – Regierung Orbán stur
BRÜSSEL - Es bleibt spannend bis zur letzten Minute. Am heutigen Mittwoch wird die EU-Kommission bekannt geben, ob sie einen großen Teil der für Ungarn vorgesehenen Fördermittel einfriert. In Rede stehen bis zu 13,3 Milliarden Euro. Bis zum 19. November hätte die Regierung von Victor Orbán „grundlegende“Reformen umsetzen müssen – dabei geht es hauptsächlich darum, die Unabhängigkeit der Justiz wieder herzustellen. Das ist nach Einschätzung der Brüsseler Beamten aber nicht geschehen.
Schon vor zehn Jahren hatte der Europarat beklagt, dass die mit absoluter Mehrheit regierende FideszPartei immer stärker in die Gerichtsbarkeit eingreift und zum Beispiel durch eine der Partei nahestehende Präsidentin des Nationalen Richteramts Einfluss auf die Personalpolitik in der Justiz nehmen kann. Schon damals hatte auch die EU-Kommission Mahnungen in Richtung Budapest geschickt. Die blieben aber zahnlos, weil ein Verfahren, um Ungarn die Stimmrechte im Rat zu entziehen, ein sogenanntes Artikel-7-Verfahren, nicht die erforderliche Einstimmigkeit gefunden hätte.
Zwei Dinge haben sich seither geändert, die es für den selbstbewussten und gern provozierenden Orbán zunehmend ungemütlich machen: Es gibt ein neues „Rechtsstaatsverfahren“, bei dem die Regierungen mit qualifizierter Mehrheit entscheiden können, Gelder aus dem EU-Budget einzufrieren. Zudem verließen Anfang März 2021 die zwölf Fidesz-Abgeordneten im Europaparlament die konservative EVP-Fraktion. Seither halten sich auch CDU-Europapolitiker nicht mehr mit Kritik an Orbán zurück. Eine Resolution, in der die Kommission aufgefordert wird, die Gelder nicht auszuzahlen, wurde letzte Woche im Plenum von einer überwältigenden Mehrheit unterstützt. 416 Abgeordnete befürworteten den Antrag, nur 124 stimmten dagegen, 33 enthielten sich.
Die EU-Kommission kann sich an diesem Dienstag darauf beschränken, „nur“die Mittel aus dem Corona-Fördertopf einzufrieren, das wären immerhin schon 5,8 Milliarden Euro. Oder sie kann zusätzlich Mittel aus dem regulären Budget zurückhalten – Insider sprechen von 65 Prozent der Ungarn bis 2027 zustehenden Summe, das wären weitere 7,5 Milliarden Euro. 2023 will das Land knapp 80 Milliarden Euro ausgeben und seine Neuverschuldung deutlich senken. Diese Pläne würden mit Sicherheit durchkreuzt, wenn Brüssel Ernst macht. Angesichts stark steigender Kreditzinsen und eines jetzt schon an Wert verlierenden Forint sind die ökonomischen Aussichten für ungarns Wirtschaft eher düster.
Die Finanzminister könnten noch vor Weihnachten den Kommissionsvorschlag mit qualifizierter Mehrheit annehmen. Nötig wären 15 Staaten, die zusammen 65 Prozent der europäischen Bevölkerung repräsentieren. Zwei große Länder allerdings haben bereits ihr Veto angekündigt: Polen und Italien. Hinzu kommt, dass Orbán in den Bereichen, wo einstimmig entschieden werden muss, also vor allem in außenpolitischen und steuerlichen Fragen, sein Drohpotenzial offen ausspielt. Sollte er sein Geld nicht bekommen, will er wichtige Handlungsfelder der EU blockieren.
Ukraines Außenminister Dmytro Kuleba beklagte am Montagabend im Interview mit „Politico“, sein Land werde zur Geisel dieses innereuropäischen Konflikts. Mehrfach hatte Orbán die Sanktionen gegen Russland infrage gestellt und betont, Ungarn
werde keine Opfer bringen, um die Ukraine zu unterstützen. Vorletzten Sonntag hatte er für Empörung gesorgt, weil er bei einem Fußballspiel einen Schal trug, der sein Land in den Grenzen vor 1918 zeigt, als Teile des Balkans, Österreichs und der Ukraine noch zu Ungarn gehörten.
Neben einem neuen Paket an Sanktionen gegen Russland steht auch die große Unternehmenssteuerreform auf dem Spiel, die mehr als 130 Länder im vergangenen Jahr vereinbart hatten. Mit einem „europäischen Regelwerk für Unternehmensbesteuerung“will sie Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni in der EU umsetzen. Geplant ist, dass grenzüberschreitende Firmen ihre Gewinne künftig nicht mehr am Firmensitz versteuern, sondern dort, wo das Geschäft getätigt wird. Ferner soll eine EU-weite Körperschaftssteuer von mindestens 15 Prozent den nationalen Flickenteppich ersetzen. Gegen diesen Mindeststeuersatz haben sowohl Polen als auch Ungarn ihr Veto angekündigt. Victor Orbán weiß genau, dass die EU in diesen angespannten Zeiten besonders erpressbar ist. Gegenüber Russlands Regierungschef Wladimir Putin möchte sich die Gemeinschaft so geschlossen wie möglich zeigen. In seiner russlandfreundlichen Haltung allerdings steht Orbán in Osteuropa ziemlich isoliert da. Gerade Polen drängt auf einen harten Kurs und zeigt sich zu hundert Prozent solidarisch mit der Ukraine.
All diese Konfliktlinien und möglichen Bündnisse muss die EU-Kommission im Blick behalten, wenn sie ihre Entscheidung trifft, das Rechtsstaatsverfahren voranzutreiben. Die Regierungen in Polen und Italien werden alles ganz genau verfolgen – denn sie könnten die nächsten sein.