Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Mehr Süchtige, mehr jugendliche Konsumenten?
Legalisierung von Cannabis durch die Ampel-Regierung rückt näher – Experten warnen eindringlich vor den Gefahren der Droge
BERLIN - Als Karl Lauterbach die Eckpunkte zur Cannabis-Legalisierung vorstellte, wollte er das Projekt nicht als großen Durchbruch in der Drogenpolitik verkaufen. „Im Vordergrund“, so der Gesundheitsminister, „stehen ein besserer Kinderund Jugend- sowie Gesundheitsschutz“. Doch diese Strategie wirft Fragen auf: Eine Droge legalisieren und damit Suchtkranken und jungen Erwachsenen helfen, kann das wirklich klappen?
Lauterbach war lange ein Gegner der Legalisierung. Seine Meinung geändert hat er nach eigenem Bekunden, weil immer mehr Cannabis mit Heroin gestreckt werde – was Experten einhellig verneint haben. Die Aussage deckt sich auch nicht mit der praktischen Erfahrung des Psychiaters Norbert Scherbaum. Er ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der LVR-Universitätsklinik Essen und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS): „In meiner klinischen Tätigkeit habe ich nicht den Eindruck, dass es eine hohe Komplikationsrate durch Verunreinigungen gibt.“Dass ein Patient nach Konsum von offensichtlich mit synthetischen Cannabinoiden verunreinigtem Cannabis auf die Intensivstation gekommen wäre, habe er persönlich noch nicht erlebt. Allerdings könne es regionale Unterschiede geben.
Scherbaum ist skeptisch: „Ich befürchte, dass die Legalisierung zu mehr Menschen mit Cannabisproblemen führen wird“, sagt der Psychiater im Gespräch. „Es gilt die Grundregel der Verhältnisprävention: Je verfügbarer ein Suchtmittel ist, desto eher wird es missbräuchlich konsumiert.“Scherbaum sieht vor allem zwei Risikogruppen: Jugendliche und Menschen, die Cannabis zur „Selbstmedikation“bei psychischen Erkrankungen einsetzen.
„Wer eine Depression oder Angststörung hat, fühlt sich vielleicht ruhiger, wenn er Cannabis konsumiert.“Langfristig verschlimmere der Cannabiskonsum aber diese Erkrankungen. „Daher würde ich immer empfehlen, Kontakt mit einem Arzt aufzunehmen und sich über die verfügbaren Behandlungsmethoden zu informieren“, sagt Scherbaum.
In der Diskussion müsse man zudem zwischen Cannabis zu Genussund zu medizinischen Zwecken scharf trennen. „Wir diskutieren ja auch nicht darüber, ob wir Heroin zum Freizeitkonsum legalisieren, weil es ein gutes Schmerzmittel sein könnte.“
Junge Menschen, die Cannabis konsumieren, gehen aus Sicht des Psychiaters ein Risiko ein: „Der Konsum im Jugendalter ist ein Experiment mit sich selbst. Man kann eine Psychose bekommen, muss es aber nicht.“Es gebe kaum Indikatoren, die das sicher vorhersagen könnten. Klar sei hingegen: Wer im Jugendalter mit einem regelmäßigen Konsum anfängt, erhöht das Risiko, den Rausch teuer zu bezahlen. „Die Gefahr, abhängig zu werden, Depressionen, Angstzustände und Psychosen zu entwickeln, ist dann erhöht“, sagt Scherbaum.
Warum ist das so? „Das zentrale Nervensystem entwickelt sich in diesem Alter noch. Das bringt auch eine potenzielle Einschränkung von Aufmerksamkeit und Intelligenz mit sich“, sagt Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin
(DGKJ), der „Schwäbischen Zeitung“. Diese Entwicklung sei auch mit 18 Jahren noch nicht beendet und betreffe junge Erwachsene ebenso. Rodeck kann das Argument, dass eine Legalisierung von Cannabis den Schwarzmarkt austrocknen würde, zwar „ein Stück weit nachvollziehen“, aber er stellt die Frage: „Was ist man bereit, dafür in Kauf zu nehmen?“Man setze etwas aufs Spiel, was man schützen wolle. „Man sollte“, findet Rodeck, „den Jugendschutz nicht heranziehen, um die Cannabis-Legalisierung zu propagieren“.
Rodeck sieht es kritisch, dass den geplanten lizensierten Fachgeschäften auch eine Beratungsfunktion zukommen soll. „Im Tabakladen findet ja auch keine Nikotinberatung statt. Das würde zu Fehlanreizen führen“, sagt Rodeck. Wer derzeit Cannabis konsumieren möchte, wird auf dem Schwarzmarkt fündig. „Aber wer dazwischen steht und sich sagt, vielleicht probiere ich es, für den wird es nach der Legalisierung leichter“, sagt Rodeck. Doch besteht vielleicht auch für eine effektivere Prävention eine Chance, wenn Jugendliche ohne das Stigma des Illegalen über Cannabis reden können? Rodeck verneint. „Reden können sie auch jetzt schon. Es gibt aber einen Unterschied zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention. Es ist immer effektiver, die Verhältnisse so zu gestalten, dass es schwieriger ist, an die Droge heranzukommen, als auf Verhaltensprävention zu setzen“, sagt der Kindermediziner. Denn diese setze voraus, dass der Jugendliche auch offen dafür sei.
Raimund Reintjes leitet das Drogen-Aufklärungsprojekt Sonar. Cannabis sei neben Alkohol und Tabak die am weitesten verbreitete Partydroge. „Allerdings neben Tabak auch die, die die geringsten Probleme verursacht“, sagt Reintjes. Was nicht heißt, dass es keine gäbe. „Psychosen, psychiatrische Behandlungen und psychische Abhängigkeiten werden wir nach der Legalisierung möglicherweise mehr haben“, sagt Reintjes und fügt hinzu: „Vielleicht aber auch, weil sich mehr Menschen der Sucht stellen.“Schließlich gebe es bei einer Partnerschaft oder in der Familie durchaus Hürden, den Konsum einer illegalen Droge zuzugeben. Reintjes rechnet damit, dass es nach der Legalisierung zunächst zu einem höheren Konsum kommen wird. Das sei sowohl in Portugal nach deren Entkriminalisierung als auch in Kanada nach der Legalisierung der Fall gewesen. Allerdings sei in Portugal der Konsum langfristig gesunken, in Kanada stagniere er. „Ich denke, dass wir langfristig keine großen Veränderungen im Konsumverhalten beobachten werden“, sagt Reintjes. Entscheidend ist für ihn, „die Kids von den Dealern wegzukriegen“. Deswegen findet er die Legalisierung unter dem Strich auch richtig. „Alles ist besser als die Situation, die wir jetzt haben.“