Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Zeit der Katastrophen
Im abschließenden Band seiner Geschichte Oberschwabens spürt der Historiker Peter Eitel den Ereignissen zwischen 1918 und 1952 nach
Mit dem dritten Band über die Zeit von 1918 bis 1952 hat Peter Eitel seine „Geschichte Oberschwabens im 19. und 20. Jahrhundert“vollendet. Nach den Büchern über den „Weg ins Königreich“(1800-1870) und die Kaiserzeit (18701918) stellt der Historiker nun die von Not und Gewalt geprägten Jahre vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung des Südweststaates dar. Wie schon zuvor weiß der frühere Ravensburger Stadtarchivar souverän die „große“mit der „kleinen“Geschichte vor Ort zu verschränken. Ergänzt um viele historische Fotos ist auch dieser Band wieder Geschichtsund Lesebuch sowie Nachschlagewerk in einem.
500 Seiten für 34 Jahre – aber was für Zeiten waren das! Kriegsende, Revolution, Weimarer Republik, Inflation, Arbeitslosigkeit, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, französische Besatzung, demokratischer Neubeginn. Wie hat das die Region zwischen Donau und Bodensee geprägt? Dies ist die Leitfrage des neuen Bandes, dem Eitel den Untertitel „In den Strudeln der großen Politik“gegeben hat. Über diese drei Jahrzehnte sind seit Mitte der 1980er-Jahre viele regionalgeschichtliche Arbeiten erschienen. Und Peter Eitel ist selbst ein Vertreter jener Generation von Historikern, die auch gegen Widerstände begonnen hat, den Nationalsozialismus vor Ort zu erforschen.
Noch heute ist in Oberschwaben ein gewisser Stolz spürbar, dank des tief verwurzelten Katholizismus nicht zu den Hochburgen des Nationalsozialismus gehört zu haben. Forschungen zu Hitlers Wählern und Parteigenossen haben gerade in den letzten Jahren neue Einsichten und Erkenntnisse gebracht: unter anderem die, dass man sich auf pauschale Aussagen nicht verlassen kann.
Eitel hat jetzt in seinem Buch akribisch die Wahlergebnisse von 1919 bis 1933 erfasst. In Tabellen stellt er die Resultate der Landtags- und Reichstagswahlen sowie die Abstimmungen
über den Reichspräsidenten auf allen Ebenen dar – von den Oberämtern über die Städte bis hin zu kleinen Gemeinden. Bei den Reichstagswahlen hatte die katholische Zentrumspartei bis 1933 in den zehn Oberämtern Oberschwabens jeweils weit über 50 Prozent, meist sogar über 60 Prozent erreicht. Selbst bei den Märzwahlen 1933, als Hitler schon Kanzler war, stimmte die Mehrheit der Wahlberechtigten in Oberschwaben für das Zentrum (50,6 Prozent). Die NSDAP, die im Reich 43,9 Prozent erzielte, kam in Oberschwaben nur auf 38,7 Prozent.
So enthüllt der Blick des Regionalhistorikers auf das Wahlverhalten interessante Abweichungen vom allgemeinen Trend. Aber auch, dass Weingarten (1922) und Biberach (1923) unter den Städten waren, in denen sehr früh eine NSDAP-Ortsgruppe entstanden war. Auffallend ist auch die sprunghafte Steigerung der Stimmen für die NSDAP bei den Reichstagswahlen 1930 im katholischen Mengen von 1,4 Prozent (1928) auf 24,4 Prozent. Hier fiel der engagierte Wahlkampf des Lehrers und frühen Parteigenossen Hans Gruler bei entlassenen Fabrikarbeitern und verarmten Gewerbetreibenden auf fruchtbaren Boden.
Mit welchem Tempo es den Nationalsozialisten gelungen ist, den Staat in eine Diktatur umzubauen, lässt sich mit Schrecken auch hier wieder nachlesen. Der Terror setzte gleich im Frühjahr 1933 ein. Das KZ auf dem Heuberg, 15 Kilometer von Sigmaringen entfernt, wurde am 20. März 1933 eröffnet, Anfang Mai waren dort schon 2000 Menschen inhaftiert. Dass ein Schullehrer in Herbertingen gleich am Wahltag des 30. Januar 1933 die Kinder drei Vaterunser für Hitler beten ließ, wie die sozialdemokratische „DonauWacht“berichtete, mag man als Anekdote ablegen.
Aus dem Katholizismus entwickelte sich der Protest gegen den Nationalsozialismus. Groß war die Solidarität mit dem von den Nazis aus seiner Diözese Rottenburg vertriebenen Bischof Sproll, heftig auch der Widerspruch gegen die Tötung der Kranken aus den psychiatrischen Kliniken und gegen die Abschaffung der kirchlichen Kindergärten und Bekenntnisschulen. Proteste gegen die Deportation der Juden oder der in Ravensburg beheimateten Sinti sind nicht bekannt.
Ausführlich beschreibt Peter Eitel die Kriegswirtschaft in der Region. Das System der Zwangsarbeit nutzten Landwirtschaft wie Industrie, besonders die Rüstungsindustrie, die anfangs auf Friedrichshafen konzentriert war, aber durch Betriebsverlagerungen bis nach Wangen und Biberach ausgriff. Der Anteil der „Fremdarbeit“ist, wie Eitel ausführt, kaum exakt zu beziffern. In der Forschungsliteratur schwanken die Zahlen für Friedrichshafen zwischen 14.000 und 15.000 Zwangsarbeitern. Darüber hinaus gelangten ab Mitte 1943 „1200 Häftlinge aus dem KZ Dachau nach Friedrichshafen und Saulgau, wo sie bei der Firma Luftschiffbau Zeppelin fast bis Kriegsende“beim Raketenbau eingesetzt wurden, schreibt Peter Eitel.
Sein Buch endet nicht mit dem Krieg und der sogenannten Stunde Null im Jahr 1945, die es nie gab. Er wählt dafür das Ende der französischen Besatzungszeit und beschreibt die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen bis zur Gründung des Südweststaates 1952. Geschildert wird das Chaos mit den befreiten Zwangsarbeitern , den vielen Flüchtlingen und all den Heimatlosen, die nach dem Kriegsende nicht wussten wohin. Und man bekommt eine Ahnung davon, wie steinig der Weg zu einer neuen Demokratie war.
Peter Eitel: Geschichte Oberschwabens im 19. und 20 Jahrhundert. Band 3: In den Strudeln der großen Politik (1918-1952), 536 Seiten, Thorbecke, 34 Euro.