Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Rückzug auf Raten
Soldaten aus Laupheim, Stetten am kalten Markt und Donaueschingen sind als Blauhelme in Mali. Die Diskussionen um den bevorstehenden Abzug der Bundeswehr gefährden ihre Arbeit.
Jenen Mittwochabend vor zwei Wochen, den 16. November, werden Hauptfeldwebel Lydia G. und Oberleutnant Kevin K. in sehr gemischter Erinnerung behalten. Im Camp Castor, dem Feldlager der UNBlauhelmmission Minusma im Osten Malis gelegen, kehrt Ruhe ein. Auch in der nahegelegenen Stadt Gao ist es ruhig, die 87.000 Einwohner bereiten sich auf die Nacht vor. „Als aber gegen 20 Uhr die ersten Gerüchte vom angeblich bevorstehenden sofortigen Rückzug der Bundeswehr aus Mali die Runde machten, war es mit der Ruhe dahin“, blickt Kevin K. zurück, „es waren ja lediglich Gerüchte und zu jenem Zeitpunkt sogar Falschmeldungen. Dies gefährdet Leib und Leben der Soldatinnen und Soldaten, ist ein Spiel mit unserer Sicherheit.“Der Offizier fügt hinzu: „Oft wird geschrieben, dass der Minusma-Einsatz der gefährlichste Einsatz der Bundeswehr sei. Wir aber fühlen uns hier verhältnismäßig sicher. Erst durch Falschmeldungen wie diese wird es gefährlich.“
Leitverband des derzeitigen Minusma-Kontingents ist das Jägerbataillon 292 aus Donaueschingen mit etwa 300 Soldaten. Aus Stetten am kalten Markt (Landkreis Sigmaringen) sind Angehörige des Artilleriebataillons 295 und der Panzerpionierkompanie 550 im Camp Castor. Das Hubschraubergeschwader 64 aus Laupheim stellt das Personal für die fünf CH-53-Transporthubschrauber, die während des Einsatzes in Gao stationiert sind. „120 Männer und Frauen“, präzisiert ein Sprecher des oberschwäbischen Verbandes. Der Bundestag hatte das Bundeswehrmandat im Mai um ein Jahr verlängert und von 1100 auf 1400 Soldatinnen und Soldaten erhöht. Die UNMission besteht aus etwa 13.000 Soldaten sowie 2000 Polizeiangehörigen aus rund 60 Ländern. Seit Beginn der Mission 2013 sind 292 Blauhelme getötet worden.
Die Blauhelme garantieren derzeit die Sicherheit in der Region, bieten der Bevölkerung Schutz vor terroristischen Gruppierungen, die den Sahelstaat Mali zum Aufmarschgebiet des Dschihadismus machen wollen. K., der als Vertrauensperson der Offiziere auch die Interessen des südwestdeutschen Führungspersonals vertritt, beschreibt die Folgen der Meldungen an jenem Abend: „Und mit einer einzigen Nachricht können Unruhe und Unsicherheit zurückkehren.“
Was war passiert? Die international tätige Nachrichtenagentur Agence France Presse hatte aus politischen Kreisen in Berlin von Gesprächen zwischen dem Kanzleramt, dem Auswärtigen Amt und dem Verteidigungsministerium erfahren, in denen es um den weiteren Einsatz der Bundeswehr in Mali im Rahmen der Minusma-Mission ging. Zwar betonte das Auswärtige Amt an jenem Abend, dass die Abstimmungen in der Koalition noch liefen und dass bisher keine Entscheidung gefallen sei. In Worten: „Keine Entscheidung.“Der „Spiegel“aber verkündete schon in großen Buchstaben: „Deutschland will Bundeswehr kommendes Jahr aus Mali abziehen.“Ein im Journalismus völlig normaler Vorgang, der durch Facebook, Instagram und Twitter innerhalb von Minuten aufgegriffen, verstärkt und weltweit verbreitet wurde.
K. berichtet: „Da die malischen Medien natürlich jede Nachricht aus Deutschland, die den Minusma-Einsatz betrifft, intensiv verfolgen, sie aufgreifen und schnell verbreiten, hieß es hier im Einsatzland sofort: Die Deutschen ziehen ab.“
Die Folgen der Berichterstattung bekamen die Soldaten zu spüren: „Viele von uns wurden angesprochen, wurden mit den Ängsten der Bevölkerung konfrontiert.“K. ist als Adjutant des Kontingentführers der Bundeswehr tätig. Er bereitet den Dienstalltag von Oberst Rüdiger Beiser vor, begleitet ihn auf seinen Reisen durchs Land, auch in die malische Hauptstadt Bamako und steht somit im engen Kontakt mit Regierungsvertretern und UN-Offiziellen.
Sechs Tage später, am Dienstag vergangener Woche, verbreiteten die Nachrichtenagenturen dann die bestätigte Nachricht: „Die Bundesregierung will den Einsatz deutscher Soldaten im westafrikanischen Mali zunächst fortsetzen, aber auch einen konkreten Plan für den Abzug verfolgen.“Für Hauptfeldwebel Lydia G. und Oberleutnant Kevin K. hieß dies: Eine völlig andere Lage. „Mit gesicherten Nachrichten können wir und unsere Partner selbstverständlich umgehen.“Natürlich werde intern diskutiert, auch kontrovers. „Aber es ist in Deutschland so: Die Politik entscheidet und die Soldaten agieren im Sinne der Entscheidungsträger“, bestätigen G. und K.
Der Einsatz soll nicht sofort beendet, sondern soll im Mai 2023 „letztmalig“um ein Jahr verlängert werden, erklärte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Dienstag vergangener Woche nach Beratungen der Bundesregierung in Berlin. Ziel sei es, „diesen Einsatz nach zehn Jahren strukturiert auslaufen zu lassen“. Chaotische Szenen wie im August 2021, als die Bundeswehr aus Afghanistan abzog, soll es nicht geben.
Rückblick auf das Jahr 2013: Um die terroristischen Kräfte zurückzudrängen, bat die damalige Regierung in Mali um militärische Unterstützung durch Frankreich. In verschiedenen Missionen arbeiteten Soldaten aus bis zu 60 Nationen zusammen. Doch spätestens seit dem Machtantritt von Assimi Goita, der seit Mai 2021 und einem erneuten Militärputsch Chef der Übergangsregierung ist, wurden die Beziehungen zu Frankreich immer schlechter. Schließlich folgte das Zerwürfnis. Mitte August verließen die letzten französischen Soldaten Mali. Goita rückt seitdem die Zusammenarbeit mit Russland demonstrativ in den Vordergrund.
Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Agnieszka Brugger aus Ravensburg begrüßt den Abzug: „Die Entscheidung, den Einsatz der Bundeswehr in Mali nach vielen Jahren verantwortungsvoll und verlässlich auslaufen zu lassen, ist absolut nachvollziehbar. Es sind immer die schwierigsten Entscheidungen, Einsätze zu beginnen oder zu beenden.“Die Verteidigungsexpertin sieht ein Versagen europäischer Politik. Vor Deutschland hatten bereits Frankreich, Großbritannien und Schweden den Abzug der eigenen Truppen angekündigt. Zugleich wurde die Erwartung laut, dass die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union die Zeit nutzen sollen, um eine Nachfolgenation zu identifizieren.
Brugger kritisiert dieses Vorgehen: „Der Einsatz in Mali hat in den letzten Monaten keine gute Entwicklung genommen. Die europäischen Partner haben im Alleingang zurückgezogen. Es fehlt das gemeinsame Verständnis für diesen Einsatz mit der malischen Regierung,
„Mit einer einzigen Nachricht kehren Unruhe und Unsicherheit zurück.“Oberleutnant Kevin K.
während der russische und chinesische Einfluss steigen.“Nötig seien ein langfristiges Engagement im Sahel und ein europäischer Konsens hierfür.
Roderich Kiesewetter, CDU-Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Aalen-Heidenheim und Obmann der Unionsfraktion im Auswärtigen Ausschuss, kommentiert: „Der Einsatz in Mali ist regional betrachtet sinnvoll, aber er muss die Ziele realistisch erreichen können und braucht sinnvolle Einsatzoptionen. Dazu gehört die Akzeptanz unserer Soldaten in Mali und ihre bestmögliche Ausrüstung. Beides ist nicht mehr gegeben.“Kiesewetter beschreibt ein Dilemma: „So fehlen Fluggenehmigungen für Aufklärungsflüge und Kampfhubschrauber, um bedrängten Bodentruppen helfen zu können.“Denn die
UN-Blauhelme werden von der malischen Regierung an der kurzen Leine gehalten, man kann auch sagen: schikaniert. Ganz konkret: Die Bundeswehr kann zwar noch ihre „Rettungskette“für die Versorgung Schwerverletzter aus Mali sicherstellen, hat aber immer wieder und ohne nachvollziehbare Begründung keine Genehmigungen, die einen regulären militärischen Betrieb ihrer Transportflieger vom Typ A 400 M für Personal und Material ermöglichen. Auch der Flug der HeronDrohne – neben deutschen Patrouillen das zentrale Instrument des Aufklärungsauftrages – ist immer wieder untersagt. Kiesewetter resümiert: „Um den Einsatz, der sinnvoll ist, fortzusetzen, müssten die Fähigkeiten für die erforderlichen robusteren Missionen gegeben sein. Da das nicht der Fall ist, sollten wir unsere Soldatinnen und Soldaten abziehen.“
Mit dem bevorstehenden Einsatzende wird auch das langjährige Engagement sehr vieler Soldaten aus dem deutschen Südwesten enden: Die deutsch-französische Brigade etwa war seit 2013 immer wieder in dem westafrikanischen Krisenstaat aktiv. Sowohl in der Minusma-Mission wie auch im zweiten, lange Zeit parallel durchgeführten Einsatz, der Ausbildungsmission EUTM Mali, waren Angehörige des binationalen Großverbandes anzutreffen.
Dass auch im zehnten Jahr des deutschen Engagements in Mali die altbekannten Probleme auftreten, wundert nicht. Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl (SPD), hatte nach einem Truppenbesuch in Donaueschingen Alarm geschlagen, wie sie der „Zeit“sagte: „Kürzlich war ich beim Jägerbataillon 292 in Donaueschingen. Deren Soldaten verlegen gerade nach Mali und ihnen fehlten unmittelbar vor dem Abflug noch Hosen, Hemden und Schutzwesten in der richtigen Größe. Sie konnten nicht mal in Schutzausrüstung trainieren. Dabei muss im Ernstfall alles sitzen.“
Der Ernstfall ist in Mali Alltag. „Die Donaueschinger Jäger haben hier beispielsweise die Aufgabe, die Aufklärungskräfte bei Operationen sowie Patrouillen im Osten Malis abzusichern. Sie sind auch für die Sicherung des Camps zuständig“, beschreibt Oberleutnant K. Die Panzerpioniere begleiten die Patrouillen: „Sie werden benötigt, falls Sprengsätze gefunden und unschädlich gemacht werden müssen.“
Die Artilleristen haben Spezialisten unter anderem für die Wetterbeobachtung und -auswertung nach Mali entsandt. Die Soldaten liefern die nötigen Wetterdaten für die Truppe. Deutschland ist im Sector East für Aufklärung zuständig. Im Camp Castor sind neben den Deutschen auch Soldaten aus Schweden, Großbritannien und Litauen stationiert. Oberleutnant K. berichtet: „Wir arbeiten prima zusammen.“
Im direkten Kontakt zur Bevölkerung steht Oberfeldwebel Lisa R., 38 Jahre alt und seit 2019 bei der Bundeswehr. Ihr Aufgabenbereich: die zivil-militärische Zusammenarbeit, im Soldatendeutsch CIMIC. Sie sagt: „Es ist sehr aufschlussreich, die Strukturen, Abläufe und Probleme direkt vor Ort kennenzulernen. Dabei ist es gut, zu sehen, dass die realisierten Projekte unseres Projektmanagementteams etwas bewirken.“Diese Projekte seien oftmals mehr als nur finanzielle Unterstützung. Denn: „Wir vermitteln beispielsweise auch Kontakte zu Unternehmen, besorgen gebrauchte Elektronikgeräte oder beschaffen Lehr- und Lernmaterialien. Durch diese Zusammenarbeit leisten wir einen kleinen Anteil daran, dass Mali stabilisiert wird. Teil dieses Ganzen sein zu dürfen, macht mich stolz.“
Bei Hauptfeldwebel Lydia G. laufen die Fäden zusammen: „Ich bin im sogenannten Meldewesen eingesetzt und leite alle relevanten Daten, auch aus den Aufklärungsaufträgen, aus Mali nach Deutschland ins Einsatzführungskommando weiter“, berichtet die 36-Jährige. Mit den Einheimischen, die als Ortskräfte im Camp arbeiten, habe sie gute Erfahrungen gesammelt. G. lebt im Camp Castor, das sie während der ganzen Einsatzzeit aufgrund ihrer Tätigkeiten nicht verlassen kann: „Wir haben hier lange Arbeitstage. Wenn danach noch Zeit bleibt, gibt es hier Betreuungsangebote. Wir haben die Möglichkeit, Sport zu treiben, es gibt Kinoabende und natürlich die vielen Gespräche mit Kameraden.“An Heiligabend werde man einen Tannenbaum organisieren: „Das wird der Pfarrer schon machen!“
Unmut bereitet der Soldatin, dass unbestätigte Nachrichten nicht nur in Mali, sondern auch in der Heimat für Unruhe sorgen. In den vergangenen Jahren wurden die technischen Voraussetzungen geschaffen, um mit Angehörigen per Internet kommunizieren zu können. Dabei gehe es vorwiegend um Privates. Dass Soldaten in Einsätze gehen, sei mittlerweile Alltag, hier werde die Sinnhaftigkeit nicht mehr infrage gestellt: „Aber natürlich verfolgen auch die Freunde und Verwandten die Diskussionen und fragen mich nach der überwiegend negativen Berichterstattung. Da kann ich nur sagen: Ich fühle mich hier verhältnismäßig sicher!“
Was bleibt, wenn der Einsatz endet? „Die Bundeswehr geht, aber andere, vor allem afrikanische Länder, bleiben ja bei der Minusma. Fakt ist allerdings, dass mit dem Abzug Deutschlands sehr gut ausgebildete Soldaten mit modernster Ausrüstung Mali verlassen“, sagt Christian Klatt, Leiter der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Bamako. Es müsse geklärt werden, wie die Minusma oder auch eine andere Mission weitermachen könnten.
Bedenken löst in politischen Kreisen aus, dass Mali sich neuen Partnern zuwendet: dazu gehören neben Russland auch China, Türkei und Iran.
Agnieszka Brugger blickt voraus: „Nun wird der Einsatz umgestaltet. Das Engagement der Bundesrepublik in der Sahelzone wird fortgesetzt. Die Wahlen in Mali sind für Februar 2024 vorgesehen. Und da wir erst 2024 rausgehen, können wir auch auf diese Entwicklung noch reagieren.“