Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Wenn der Torwart sich langweilt
Alle sprechen von Brasiliens Offensivstars, doch das wahre Prunkstück ist die Abwehr
DOHA (SID) - Ein wenig langweilig könnte Alisson schon werden – da hinten im brasilianischen Tor, wo fast nie ein Fußball hinkommt. „Ich weiß, dass es den Torhüter nervt, wenn er nichts zu tun bekommt“, sagt sein Trainer Cláudio Taffarel und betont: „Brasilien ist heute nicht nur Spektakel. Wir haben gelernt, uns zu verteidigen.“Der Torwartcoach des Rekordweltmeisters weiß, wovon er redet. Beim Titelgewinn vor 28 Jahren in den USA ging es ihm ähnlich wie jetzt Alisson: Trotz der Stürmerstars Romário und Bebeto triumphierte Brasilien vor allem wegen der starken Defensive. „Ich musste auch nicht viel eingreifen“, erinnert sich Taffarel.
Auch unter Nationaltrainer Tite ist die Abwehr wieder zum Prunkstück geworden – trotz Stürmerstars wie Neymar, Vinicius Junior oder Richarlison. Dabei setzt der „Professor“auf Erfahrung: Thiago Silva etwa, der mit 38 Jahren zum ältesten brasilianischen WM-Spieler wurde. Ihn wird am Freitag (20 Uhr/MagentaTV) gegen Kamerun Dani Alves ablösen – mit 39 Jahren. Der dreimalige Champions-League-Sieger mit dem FC Barcelona, der in Mexiko seine Karriere ausklingen lässt, kommt wie viele andere aus der zweiten Reihe zum Vorrundenabschluss zum Einsatz, weil Brasilien bereits das Achtelfinalticket in der Tasche hat. „Natürlich ist es ein Risiko“, sagte Tite. „Aber es ist auch eine Möglichkeit für die Spieler, sich zu zeigen.“
Von Rechtsverteidiger Dani Alves wird nicht mehr wie früher verlangt, die Linie rauf und runter zu rennen, sondern Offensivaktionen mit Pässen einzuleiten und sich im Mittelfeld als Anspielstation anzubieten. Einen flankenden Cafu, einen Roberto Carlos mit gewaltigen Schüssen, einen dribbelnden Marcelo – diese Art von Außenverteidiger hat Brasilien derzeit nicht, deshalb hat Tite sein System angepasst. Flügelflitzer wie Raphinha und Vinicius Junior nehmen den Außenverteidigern die Aufgabe ab, mit nach vorne zu stürmen. Sie können sich auf ihre Defensivaufgaben konzentrieren – mit großem Erfolg.
Gegen Serbien (2:0) und die Schweiz (1:0) bekam Alisson nicht einen Schuss aufs Tor. „Die Zahlen sprechen für sich“, sagt der Keeper, der in neun seiner letzten elf Länderspiele ohne Gegentreffer blieb. „Das ist nicht nur eine Arbeit der Defensivreihe, sondern des gesamten Teams.“Vor allem der überragende „Sechser“Casemiro, der vor der Viererkette die Bälle abfängt, stabilisiert die Abwehr enorm. „Wir sind natürlich glücklich, wenn das Spiel zu null endet“, sagt Innenverteidiger Marquinho. „Das ist das Erste, was wir uns nach dem Schlusspfiff sagen: schon wieder eins mehr.“
Vorne habe man genug Qualität „für mindestens ein Törchen“. So wie 1994, als Taffarel in fünf von sieben Spielen kein Tor kassierte – und mal Romario, mal Bebeto den Sieg herausschoss.