Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Kimmichs Klagen
Mittelfeldorganisator kritisiert seine Mitspieler und hadert mit sich selbst
DOHA – Drei Spiele über die volle Distanz. Fünf von sechs Halbzeiten auf seiner Wunschposition im Zentrum des Spiels als Sechser und eine, die erste Halbzeit gegen Costa Rica als Rechtsverteidiger. Es war Joshua Kimmichs zweite WM und wie vor viereinhalb Jahren in Russland steht unterm Strich das blamable Ausscheiden nach der Vorrunde. Daran konnte auch der 4:2-Erfolg gegen Costa Rica, nichts ändern, weil Spanien den Japanern mit 1:2 unterlag.
„Natürlich hat man gehofft oder damit gerechnet, dass Spanien das Spiel gewinnt“, sagte ein völlig bedienter Kimmich in der Mixed Zone und bekam aber dann doch die Kurve: „Ich glaube nicht, dass es uns zusteht, Spanien einen Vorwurf zu machen. Wir hatten die Möglichkeit, Spanien zu schlagen, wir hatten die Möglichkeit, Japan zu schlagen. Wir hatten gegen Costa Rica die Möglichkeit, zur Pause drei, vier zu null zu führen, um damit Spanien unter Druck zu setzen. Ich glaube, es geht nicht darum, die Schuld bei den Spaniern zu suchen.“
Kimmich, einer der Wortführer der Nationalmannschaft und dritter Kapitän hinter Manuel Neuer und Thomas Müller zeigte sich in seiner ersten nächtlichen Fehleranalyse sehr klar und brachte die Dinge in einen sinnvollen Zusammenhang. Etwa bei: „Wir vergeigen das erste Spiel, setzen uns dadurch wieder komplett unter Druck.“Wie bei der WM 2018 mit dem 0:1 gegen Mexiko. Oder: „Es war meine Hoffnung, dass wir innerhalb des Turniers zusammenwachsen können.“Will sagen: Hat nicht geklappt. Und rein sportlich: „Wenn ich sehe, wie viele Chancen wir liegen gelassen haben, dann war es nicht nur Pech, sondern sehr viel Unvermögen.“So viel zur Offensive – schöne Grüße. Und zur Defensive? „Der Gegner muss nicht sehr viel investieren, um gegen uns billig Tore zu machen.“Schöne Grüße an die Abwehrkollegen.
Als es um seine persönliche Gefühlswelt ging, stockte der BayernProfi und musste sich zusammenreißen, keine Träne zu verdrücken, so angefasst wirkte der 27-Jährige. „Für mich ist es heute echt der schwierigste Tag meiner Karriere. 2018 haben wir es vergeigt, letztes Jahr die Euro in den Sand gesetzt.“Und weiter: „Das ist für mich persönlich nicht so einfach zu verkraften. Wenn ich persönlich dann mit dem Misserfolg in Verbindung gebracht werde, ist das nichts, wofür man stehen möchte.“Immerhin ist ihm seine Rolle als Führungsspieler bewusst. „Ich habe den Ehrgeiz und den Anspruch – gerade ich in der Rolle, die ich dieses Jahr hatte, mehr Verantwortung zu übernehmen – dem Team dazu verhelfen, weiterzukommen. Das ist mir nicht gelungen, wir fahren wieder nach Hause. Ich habe ein bisschen Angst davor, in ein Loch zu fallen.“
Nach dem Rückflug am Freitag hat Kimmich wie die anderen sechs Bayern-Profis erst mal Urlaub. Wenn es überhaupt etwas Positives für die Profis nach dem Schock des Ausscheidens in Katar ist, dann die Tatsche, nun etwas mehr als vier Wochen frei zu haben. Ob er sich noch die weiteren WM-Spiele anschaue? „Das ist wie Aufkratzen einer Wunde, wenn man die Spiele anguckt und denkt, da könnte ich jetzt auf dem Platz stehen“, sagte Kimmich ehrlich und erklärte: „Ich denke nicht, dass ich mir damit einen Gefallen tun würde. Natürlich werde ich das verfolgen, man kommt ja nicht drumherum, aber ich denke nicht, dass ich mir gezielt viele Spiele angucken werde.“