Schwäbische Zeitung (Tettnang)
100 Milliarden und ein Schuss in den Ofen
Verteidigungsministerin Lambrecht hat ihre liebe Not mit dem „Sondervermögen“– Lindner streut genüsslich Salz in die Wunde
BERLIN - Der Christian und die Christine, sie scheinen so was wie Brieffreunde zu sein. Der Austausch von Schriftstücken ist jedenfalls lebhaft, der Ton allerdings eher eisig. Vor einigen Monaten hatte Finanzminister Lindner (FDP) ein Schreiben an die Kollegin Lambrecht (SPD) vom Verteidigungsressort verfasst, der schnell als „Brandbrief“die Runde machte. Kurz nach Einrichtung des 100-Milliarden-Sondervermögens forderte Lindner von Lambrecht „tiefgreifende und schnelle Reformen“der Art und Weise, wie die Bundeswehr dieses Geld ausgibt.
Nun schrieb wiederum Lambrecht an Lindner und verlangte zusätzliche Haushaltsmittel „in signifikantem Umfang“und zwar „jetzt“, um dringend benötigte Munition beschaffen zu können.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und sie hatte es in sich: Nicht an Haushaltsmitteln mangele es, sondern an kluger Bedarfsplanung und effizienten Bestellprozessen, schoss das Finanzministerium zurück. Es liege nicht am Geld, sondern an der Ministerin, so die unmissverständliche Botschaft. Mit dieser Ansicht stehen Lindner und sein Team nicht allein. Lambrecht ist auf direktem Weg zurück an die Spitze der Problemfälle im Kabinett. Woran das liegt? Hier die wichtigsten Antworten.
Was ist mit dem Nato-Ziel? Allerspätestens im Jahr 2024, so die gemeinsame Verabredung in der Nato, sollten eigentlich alle Mitglieder rund zwei Prozent ihrer Wirtschaftskraft in Verteidigung investieren. Deutschland hat das Ziel bislang nie erreicht, zwischenzeitlich aber viel Zeit damit verbracht, über die Stichhaltigkeit dieser Zahl zu diskutieren. Insbesondere bei SPD und Grünen war lange von „sinnloser Aufrüstung“die Rede. In seiner Zeitenwende-Rede im Februar aber versprach Kanzler Olaf Scholz (SPD) unmissverständlich, „von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts“in die deutsche Verteidigung zu stecken.
Und klappt das?
In diesem Jahr schon mal nicht und auch die Zahlen für das kommende Jahr sehen nicht danach aus. 50,12 Milliarden Euro sind für den Verteidigungsetat 2023 vorgesehen. Hinzu kommen Ausgaben aus dem Sondervermögen von 8,41 Milliarden Euro. „Das Zwei-Prozent-Ziel liegt in weiallerdings ter Ferne“, kritisiert der CSU-Verteidigungspolitiker Florian Hahn. Um das zu erreichen, müssten nämlich insgesamt rund 70 Milliarden Euro ausgegeben werden. Von diesem Delta lässt sich Christine Lambrecht nicht irritieren. Schließlich sei, so die Ministerin, von Anfang an klar gewesen, „dass man im ersten Jahr keineswegs, auch nicht mit diesem Sondervermögen, die zwei Prozent erreichen kann“. Tatsächlich
heißt es im Begleitgesetz, dass das Zwei-Prozent-Ziel mithilfe des Sondervermögens „im mehrjährigen Durchschnitt von maximal fünf Jahren“erreicht werden soll. Das heißt aber auch, je weniger 2022 und 2023 umgesetzt wird, desto mehr muss in den Folgejahren fließen.
Sind die 100 Milliarden Euro genug?
Lambrecht legt einerseits viel Wert auf die Feststellung, dass die Summe von 100 Milliarden Euro sehr sorgfältig errechnet und nicht etwa „gewürfelt“sei. Andererseits schwant auch ihr inzwischen, dass es nicht reicht. „Wir brauchen mehr Geld“, sagte sie daher mit Blick auf den Haushalt und das just in der Woche, in der der Bundestag den Etat für das nächste Jahr beschloss – der übrigens knapp 300 Millionen Euro unter dem des laufenden Jahres liegt.
20 Milliarden Euro braucht die Ministerin pro Jahr allein für das aktive und das pensionierte Personal der Bundeswehr, weitere 20 Milliarden Euro für den laufenden Betrieb, die explodierenden Energiekosten nicht mal eingerechnet. Bleiben nicht ganz zehn Milliarden für Beschaffungen – bei steigenden Preisen. Der Moment der Wahrheit kommt nach Ansicht von Experten spätestens 2026, wenn das Sondervermögen ausgegeben ist und zugleich die neu angeschafften Waffen zusätzliche Personal- und Betriebskosten verschlingen. CSU-Mann Hahn sieht bereits „die Bundeswehr vor der Pleite“.
Warum jetzt die Aufregung um die Munition?
Der Munitionsmangel ist ein altes Problem der Bundeswehr. Lambrecht selbst beziffert den Nachholbedarf auf 20 Milliarden Euro. Auch das dürfte zu niedrig gegriffen sein, denn die Abgaben an die Ukraine, die vermehrten Übungen infolge des Kriegs und die steigenden Anforderungen der Nato vergrößern den Bedarf gerade täglich. Am vergangenen Montag fand daher ein Treffen zum Thema zwischen Regierung und Industrie im Kanzleramt statt. Anschließend bat Lambrecht Lindner um neues Geld.
In der Antwort wurde ihr allerdings bescheinigt, das Munitionsproblem schlicht verschlafen zu haben: Die nötigen Beschaffungen seien „weder bei der Verhandlung zum Sondervermögen und dessen Wirtschaftsplan noch im Zuge des parlamentarischen Verfahrens zum Ausdruck gebracht“worden.
Wenn nicht alles täuscht, dann wird auch Scholz, der Lambrecht vor einem Jahr überraschend in das Verteidigungsamt hievte und allein deswegen an ihrem Erfolg interessiert ist, allmählich ungeduldig. Seine Antwort auf eine Frage nach der Munitionsbeschaffung klang jedenfalls eher nach Mahnung als nach Zuversicht: Lambrecht, so der Kanzler „tut alles dafür, dass das auch gelingt – und es wird auch gelingen“.