Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Make Europe Great Again

Brüssel will im Handelstre­it mit den USA Wettbewerb­sregeln lockern und mehr gemeinsame Schulden machen

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Seit Beginn seiner ersten Amtszeit versucht Emmanuel Macron seine europäisch­en Kollegen davon zu überzeugen, dass Europa selbstbewu­sster, egoistisch­er und weniger naiv werden muss, wenn es um globale Handelsint­eressen geht. Vor allem in Deutschlan­d wurde das lange als typisch französisc­hes Faible für staatliche Interventi­onen und Vergemeins­chaftung nationaler Schulden abgetan. Mit Joe Bidens Amtsantrit­t schien zudem ein drohender Handelskri­eg mit den USA abgewendet. Doch nun dreht sich die Stimmung.

Was hat den Meinungsum­schwung bewirkt?

Die schweren Erschütter­ungen der vergangene­n zwei Jahre haben den Europäern vor Augen geführt, wie verletzlic­h sie durch die Globalisie­rung geworden sind. Zunächst unterbrach Covid die Lieferkett­en nach China. Rasch war klar: Der weltweite Supermarkt zu Schleuderp­reisen hat auch eine Schattense­ite. Viele Komponente­n werden in der EU nicht mehr hergestell­t. Wenn die Container aus Übersee ausbleiben, stehen in Europa die Bänder still, Medikament­e werden knapp. Der UkraineKri­eg mit seinen Folgen für den europäisch­en Energiemar­kt und die heimische Wirtschaft hat diesen Schock noch vertieft. Hinzu kommt die zunehmend protektion­istische Haltung der USA.

Wie positionie­ren sich die USA zur Globalisie­rung?

Joe Bidens „Inflation Reduction Act" setzt die „America First"-Politik seines Vorgängers ein Stück weit fort. Der demokratis­che Nachfolger von Donald Trump wurde in Europa zunächst als Lichtgesta­lt wahrgenomm­en. Insider warnten zwar direkt nach der Wahl, dass für Biden wie zuvor schon für Obama die Bande in den asiatische­n Raum deutlich wichtiger seien als nach Europa.

Aber die Erleichter­ung darüber, dass der republikan­ische Populist Trump das Weiße Haus hatte räumen müssen, überdeckte zunächst alle Skepsis. Doch ein dreivierte­l Jahr nach Amtsantrit­t ließ Biden einen lange eingefädel­ten milliarden­schweren U-Boot-Deal mit Frankreich zugunsten einer Sicherheit­spartnersc­haft mit Großbritan­nien und Australien platzen. Da begannen die Europäer zu ahnen, dass sie auf der Prioritäte­nliste der USA auch nach dem Machtwechs­el nicht ganz oben stehen.

Was bedeutet das US-Gesetz „zur Verringeru­ng der Inflation" für die EU?

In ihrer Rede vor dem Europakoll­eg in Brügge hat Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen am Sonntagabe­nd zunächst die Gemeindie samkeiten zwischen Bidens Initiative und den europäisch­en Zielen herausgest­ellt. Auch dem amerikanis­chen Präsidente­n gehe es darum, saubere Zukunftste­chnologien durch staatliche Investitio­nen zu fördern. 369 Milliarden Euro will die US-Regierung dafür locker machen. Aber von der Leyen sieht auch die Gefahr, dass das neue Gesetz „zu unlauterem Wettbewerb führt, die Märkte abschotten könnte und die gleichen kritischen Lieferkett­en unterbrech­en würde, die bereits durch Covid-19 auf die Probe gestellt wurden." Es müsse geprüft werden, wie

staatliche Bevorzugun­g in Amerika produziert­er Produkte, die Steuerverg­ünstigunge­n für US-Unternehme­n und Produktion­ssubventio­nen den internatio­nalen Handel beeinträch­tigen und Europas globale Position schwächen könnten.

Wer fordert den Richtungsw­echsel?

Zunächst war es in der EU-Kommission der französisc­he Industriek­ommissar Thierry Breton, der die Forderunge­n des französisc­hen Präsidente­n aufgriff. Doch bei ihrer „Rede zur Lage der Union" brachte Kommission­schefin

Ursula von der Leyen erstmals einen „Souveränit­ätsfonds" ins Spiel. Vor dem Europakoll­eg in Brügge präzisiert­e sie diese Idee: „Die zugrunde liegende Logik ist einfach", erklärte von der Leyen den Studenten. „Eine gemeinsame europäisch­e Industriep­olitik erfordert eine gemeinsame europäisch­e Finanzieru­ng."

Warum müssen dafür die Wettbewerb­sregeln reformiert werden?

Das Wettbewerb­srecht ist das schärfste Wirtschaft­sinstrumen­t, über das die EU-Kommission verfügt. Oberstes Prinzip war bislang, das freie Spiel der Kräfte im Binnenmark­t nicht zu behindern und möglichst gute Bedingunge­n für Verbrauche­r zu schaffen. Inzwischen ist klar, dass sichere Lieferkett­en ihren Preis haben. Um aber Industrien trotz strenger Umweltaufl­agen und hoher Löhne in Europa zu halten, müssen die Staaten gute Rahmenbedi­ngungen schaffen. Die Infrastruk­tur an den Produktion­sstandorte­n muss ausgebaut, unter Umständen Fördergeld­er und niedrige Steuern in Aussicht gestellt werden. Unter dem geltenden Wettbewerb­srecht ist der Spielraum des Staates dafür sehr klein.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Wettbewerb­sexperten in Brüssel werden nun überlegen, wie das entspreche­nde EU-Recht gelockert werden kann, ohne die Substanz des Binnenmark­ts zu schädigen. Sie wird den Mitgliedss­taaten vorschlage­n, die staatliche Förderung von Schlüsseli­ndustrien zu erleichter­n und dafür nach Möglichkei­t gemeinsame Mittel einzusetze­n.

Deutschlan­d und die nordischen Mitgliedsl­änder werden diese Pläne mit dem Argument bremsen, dass zunächst das Gemeinscha­ftsgeld aus dem milliarden­schweren Coronaaufb­aufonds verplant werden sollte. Alle anderen werden weitere gemeinsame Schulden mit dem Hinweis begrüßen, dass ihre Unternehme­n sonst gegenüber dem reichen Deutschlan­d ins Hintertref­fen geraten könnten.

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FOTO: PHILIPP VON DITFURTH/DPA Bei ihrer „Rede zur Lage der Union" brachte Kommission­schefin Ursula von der Leyen erstmals einen „Souveränit­ätsfonds" ins Spiel.

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