Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Make Europe Great Again
Brüssel will im Handelstreit mit den USA Wettbewerbsregeln lockern und mehr gemeinsame Schulden machen
BRÜSSEL - Seit Beginn seiner ersten Amtszeit versucht Emmanuel Macron seine europäischen Kollegen davon zu überzeugen, dass Europa selbstbewusster, egoistischer und weniger naiv werden muss, wenn es um globale Handelsinteressen geht. Vor allem in Deutschland wurde das lange als typisch französisches Faible für staatliche Interventionen und Vergemeinschaftung nationaler Schulden abgetan. Mit Joe Bidens Amtsantritt schien zudem ein drohender Handelskrieg mit den USA abgewendet. Doch nun dreht sich die Stimmung.
Was hat den Meinungsumschwung bewirkt?
Die schweren Erschütterungen der vergangenen zwei Jahre haben den Europäern vor Augen geführt, wie verletzlich sie durch die Globalisierung geworden sind. Zunächst unterbrach Covid die Lieferketten nach China. Rasch war klar: Der weltweite Supermarkt zu Schleuderpreisen hat auch eine Schattenseite. Viele Komponenten werden in der EU nicht mehr hergestellt. Wenn die Container aus Übersee ausbleiben, stehen in Europa die Bänder still, Medikamente werden knapp. Der UkraineKrieg mit seinen Folgen für den europäischen Energiemarkt und die heimische Wirtschaft hat diesen Schock noch vertieft. Hinzu kommt die zunehmend protektionistische Haltung der USA.
Wie positionieren sich die USA zur Globalisierung?
Joe Bidens „Inflation Reduction Act" setzt die „America First"-Politik seines Vorgängers ein Stück weit fort. Der demokratische Nachfolger von Donald Trump wurde in Europa zunächst als Lichtgestalt wahrgenommen. Insider warnten zwar direkt nach der Wahl, dass für Biden wie zuvor schon für Obama die Bande in den asiatischen Raum deutlich wichtiger seien als nach Europa.
Aber die Erleichterung darüber, dass der republikanische Populist Trump das Weiße Haus hatte räumen müssen, überdeckte zunächst alle Skepsis. Doch ein dreiviertel Jahr nach Amtsantritt ließ Biden einen lange eingefädelten milliardenschweren U-Boot-Deal mit Frankreich zugunsten einer Sicherheitspartnerschaft mit Großbritannien und Australien platzen. Da begannen die Europäer zu ahnen, dass sie auf der Prioritätenliste der USA auch nach dem Machtwechsel nicht ganz oben stehen.
Was bedeutet das US-Gesetz „zur Verringerung der Inflation" für die EU?
In ihrer Rede vor dem Europakolleg in Brügge hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntagabend zunächst die Gemeindie samkeiten zwischen Bidens Initiative und den europäischen Zielen herausgestellt. Auch dem amerikanischen Präsidenten gehe es darum, saubere Zukunftstechnologien durch staatliche Investitionen zu fördern. 369 Milliarden Euro will die US-Regierung dafür locker machen. Aber von der Leyen sieht auch die Gefahr, dass das neue Gesetz „zu unlauterem Wettbewerb führt, die Märkte abschotten könnte und die gleichen kritischen Lieferketten unterbrechen würde, die bereits durch Covid-19 auf die Probe gestellt wurden." Es müsse geprüft werden, wie
staatliche Bevorzugung in Amerika produzierter Produkte, die Steuervergünstigungen für US-Unternehmen und Produktionssubventionen den internationalen Handel beeinträchtigen und Europas globale Position schwächen könnten.
Wer fordert den Richtungswechsel?
Zunächst war es in der EU-Kommission der französische Industriekommissar Thierry Breton, der die Forderungen des französischen Präsidenten aufgriff. Doch bei ihrer „Rede zur Lage der Union" brachte Kommissionschefin
Ursula von der Leyen erstmals einen „Souveränitätsfonds" ins Spiel. Vor dem Europakolleg in Brügge präzisierte sie diese Idee: „Die zugrunde liegende Logik ist einfach", erklärte von der Leyen den Studenten. „Eine gemeinsame europäische Industriepolitik erfordert eine gemeinsame europäische Finanzierung."
Warum müssen dafür die Wettbewerbsregeln reformiert werden?
Das Wettbewerbsrecht ist das schärfste Wirtschaftsinstrument, über das die EU-Kommission verfügt. Oberstes Prinzip war bislang, das freie Spiel der Kräfte im Binnenmarkt nicht zu behindern und möglichst gute Bedingungen für Verbraucher zu schaffen. Inzwischen ist klar, dass sichere Lieferketten ihren Preis haben. Um aber Industrien trotz strenger Umweltauflagen und hoher Löhne in Europa zu halten, müssen die Staaten gute Rahmenbedingungen schaffen. Die Infrastruktur an den Produktionsstandorten muss ausgebaut, unter Umständen Fördergelder und niedrige Steuern in Aussicht gestellt werden. Unter dem geltenden Wettbewerbsrecht ist der Spielraum des Staates dafür sehr klein.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Wettbewerbsexperten in Brüssel werden nun überlegen, wie das entsprechende EU-Recht gelockert werden kann, ohne die Substanz des Binnenmarkts zu schädigen. Sie wird den Mitgliedsstaaten vorschlagen, die staatliche Förderung von Schlüsselindustrien zu erleichtern und dafür nach Möglichkeit gemeinsame Mittel einzusetzen.
Deutschland und die nordischen Mitgliedsländer werden diese Pläne mit dem Argument bremsen, dass zunächst das Gemeinschaftsgeld aus dem milliardenschweren Coronaaufbaufonds verplant werden sollte. Alle anderen werden weitere gemeinsame Schulden mit dem Hinweis begrüßen, dass ihre Unternehmen sonst gegenüber dem reichen Deutschland ins Hintertreffen geraten könnten.