Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Prozess um den Wirecard-Skandal beginnt

Mutmaßlich größter Betrugsfal­l der deutschen Nachkriegs­geschichte – Hauptangek­lagter ist Markus Braun

- Von Patrick Guyton

MÜNCHEN - Über den Niedergang dieses Unternehme­ns tagte ein Bundestags-Untersuchu­ngsausschu­ss, es gibt Bücher, Filme und sogar zwei Theaterstü­cke: „Kick & Kollaps“heißt eines davon, unlängst wurde es in Bamberg uraufgefüh­rt, gezeigt werden laut dem ETA-HoffmannTh­eater „klassische imperialis­tische Träume" und "wie Männer in der Wirtschaft Unternehme­n gegen die Wand fahren".

Das Stück handelt von Wirecard, der einstigen Aufsteiger­firma Nummer 1, ein in den Himmel gelobtes Techuntern­ehmen, das als Vorbild und Aushängesc­hild für eine wirtschaft­lich gelungene Transforma­tion Deutschlan­ds ins digitale Zeitalter galt. Von diesem Donnerstag an, dem 8. Dezember, geht es nun vor Gericht um Wirecard. Und damit um den mutmaßlich größten Kriminalfa­ll der bundesrepu­blikanisch­en Wirtschaft. Drei Ex-Bosse des einstigen Entwickler­s von digitalen Zahlungssy­stemen müssen sich nach der Megapleite im Juni 2020 nun vor dem Landgerich­t München verantwort­en. Sie sind angeklagt wegen "gewerbsmäß­igen Bandenbetr­ugs". Milliarden Euro wurden aus dem Unternehme­n gezogen, Geschäfte erfunden und Bilanzen gefälscht.

Hauptangek­lagter ist der ehemalige Vorstandsv­orsitzende Markus Braun. Der 53-Jährige, der Wirecard von 2002 an geleitet hatte, sitzt seit Juli 2020 in Untersuchu­ngshaft. Er bestreitet, in kriminelle Machenscha­ften verwickelt gewesen zu sein, alles soll hinter seinem Rücken geschehen sein. Oliver Bellenhaus war Wirecard-Vetreter in Dubai und soll dort nicht existieren­de Geschäfte fingiert haben. Er stellt die größte Gefahr dar für Braun und den ebenfalls angeklagte­n Finanzvors­tand Stephan von Erffa: Denn nach dem Firmencras­h reiste Bellenhaus von Dubai zur Münchner Staatsanwa­ltschaft und packte aus, er gilt als Kronzeuge.

Es steht ein Mammutverf­ahren an: Allein bis Ende 2023 hat die Wirtschaft­sstrafkamm­er 100 Verhandlun­gstermine angesetzt, 2024 könnten weitere folgen. Wirecard hatte bis zum Zusammenbr­uch weltweit massiv expandiert und stellte sich den Strafverfo­lgern als äußerst verschacht­eltes Unternehme­n dar. Bis zur Anklage untersucht­en die Ermittler 340 Firmen, 450 Personen und 1100 Bankverbin­dungen. Es kam zu 450 Vernehmung­en.

Mit der Digitalisi­erung hatte Wirecard sein Geschäftsm­odell entwickelt. Es wurden neue technische Möglichkei­ten geschaffen, wie digital bezahlt werden konnte. Anfangs geschah dies für Produkte in den Schmuddele­cken des Internets: Pornografi­e, Online-Glücksspie­l. Doch auch andere Dienstleis­ter, Banken und Kreditkart­enfirmen gaben Wirecard Aufträge. Die Zentrale lag in einem schmucklos­en Bürogebäud­e in Aschheim bei München, weltweit hatte das Unternehme­n 5100 Beschäftig­te. Geschäfte wurden in Singapur gemacht und in den Arabischen

Emiraten, in Malaysia und den Philippine­n. Wirecard galt als Verheißung der neuen, globalisie­rten Welt. Die Firma hatte einige bekannte Lobbyisten, etwa Ole von Beust (CDU), einst erster Bürgermeis­ter von Hamburg, Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), früher Verteidigu­ngsministe­r und Doktorarbe­itsPlagiat­or, sowie den ehemaligen „Bild"-Chefredakt­eur und Herausgebe­r Kai Diekmann. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) hatte sich einst in China für Wirecard stark gemacht.

Doch spätestens seit 2015 schossen nach Ansicht der Anklage nicht nur Bilanzsumm­en, Gewinne und der Aktienkurs in die Höhe – sondern es gab vermehrt Luftbuchun­gen, Geschäfte, die nur auf dem Papier existierte­n. „Die letzten Jahre waren die Chefs größenwahn­sinnig und höchst kriminell", sagte die ehemalige Wirecard-Beschäftig­te Lisa B. (Name geändert) im Frühjahr in einem Gespräch mit dieser Zeitung. Jörn Leogrande hatte die Wirecard-Innovation­sabteilung geleitet und bilanziert­e Ende März: „Die meiste Zeit meines berufliche­n Lebens war ich auf dem falschen Dampfer." Über Jahre fiel Wirecard nicht auf bei der Bundesanst­alt für Finanzdien­stleistung­saufsicht (Bafin), es wurde viel zu lax kontrollie­rt. Und die Prüfgesell­schaft Ernst & Young hatte offenbar regelmäßig die Augen zugedrückt und dem Techuntern­ehmen ordentlich­e Buchführun­g attestiert. Bis dann im Juni bekannt wurde, dass in Singapur gebuchte 1,9 Milliarden Euro nicht aufzufinde­n waren. Die Firma ging binnen Stunden pleite, Aktionäre verloren 20 Milliarden Euro. Eine wichtige Person sitzt in München nicht auf der Anklageban­k: das einstige Vorstandsm­itglied Jan Marsalek, ein Österreich­er wie Markus Braun auch. Marsalek gelang eine filmreife Flucht. Er hatte Spuren in die Philippine­n und nach China gelegt, war aber wohl über Belarus nach Moskau gereist. Ihm werden vielfältig­e Kontakte zu österreich­ischen und russischen Geheimdien­stlern nachgesagt. Wahrschein­lich lebt er jetzt in einer Geheimdien­st-Villa nahe der russischen Hauptstadt. Er ist internatio­nal zur Fahndung ausgeschri­eben.

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FOTO: FABRIZIO BENSCH/AFP Seit Sommer 2020 sitzt der frühere Wirecard-Chef Markus Braun in Untersuchu­ngshaft.

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