Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Prozess um den Wirecard-Skandal beginnt
Mutmaßlich größter Betrugsfall der deutschen Nachkriegsgeschichte – Hauptangeklagter ist Markus Braun
MÜNCHEN - Über den Niedergang dieses Unternehmens tagte ein Bundestags-Untersuchungsausschuss, es gibt Bücher, Filme und sogar zwei Theaterstücke: „Kick & Kollaps“heißt eines davon, unlängst wurde es in Bamberg uraufgeführt, gezeigt werden laut dem ETA-HoffmannTheater „klassische imperialistische Träume" und "wie Männer in der Wirtschaft Unternehmen gegen die Wand fahren".
Das Stück handelt von Wirecard, der einstigen Aufsteigerfirma Nummer 1, ein in den Himmel gelobtes Techunternehmen, das als Vorbild und Aushängeschild für eine wirtschaftlich gelungene Transformation Deutschlands ins digitale Zeitalter galt. Von diesem Donnerstag an, dem 8. Dezember, geht es nun vor Gericht um Wirecard. Und damit um den mutmaßlich größten Kriminalfall der bundesrepublikanischen Wirtschaft. Drei Ex-Bosse des einstigen Entwicklers von digitalen Zahlungssystemen müssen sich nach der Megapleite im Juni 2020 nun vor dem Landgericht München verantworten. Sie sind angeklagt wegen "gewerbsmäßigen Bandenbetrugs". Milliarden Euro wurden aus dem Unternehmen gezogen, Geschäfte erfunden und Bilanzen gefälscht.
Hauptangeklagter ist der ehemalige Vorstandsvorsitzende Markus Braun. Der 53-Jährige, der Wirecard von 2002 an geleitet hatte, sitzt seit Juli 2020 in Untersuchungshaft. Er bestreitet, in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen zu sein, alles soll hinter seinem Rücken geschehen sein. Oliver Bellenhaus war Wirecard-Vetreter in Dubai und soll dort nicht existierende Geschäfte fingiert haben. Er stellt die größte Gefahr dar für Braun und den ebenfalls angeklagten Finanzvorstand Stephan von Erffa: Denn nach dem Firmencrash reiste Bellenhaus von Dubai zur Münchner Staatsanwaltschaft und packte aus, er gilt als Kronzeuge.
Es steht ein Mammutverfahren an: Allein bis Ende 2023 hat die Wirtschaftsstrafkammer 100 Verhandlungstermine angesetzt, 2024 könnten weitere folgen. Wirecard hatte bis zum Zusammenbruch weltweit massiv expandiert und stellte sich den Strafverfolgern als äußerst verschachteltes Unternehmen dar. Bis zur Anklage untersuchten die Ermittler 340 Firmen, 450 Personen und 1100 Bankverbindungen. Es kam zu 450 Vernehmungen.
Mit der Digitalisierung hatte Wirecard sein Geschäftsmodell entwickelt. Es wurden neue technische Möglichkeiten geschaffen, wie digital bezahlt werden konnte. Anfangs geschah dies für Produkte in den Schmuddelecken des Internets: Pornografie, Online-Glücksspiel. Doch auch andere Dienstleister, Banken und Kreditkartenfirmen gaben Wirecard Aufträge. Die Zentrale lag in einem schmucklosen Bürogebäude in Aschheim bei München, weltweit hatte das Unternehmen 5100 Beschäftigte. Geschäfte wurden in Singapur gemacht und in den Arabischen
Emiraten, in Malaysia und den Philippinen. Wirecard galt als Verheißung der neuen, globalisierten Welt. Die Firma hatte einige bekannte Lobbyisten, etwa Ole von Beust (CDU), einst erster Bürgermeister von Hamburg, Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), früher Verteidigungsminister und DoktorarbeitsPlagiator, sowie den ehemaligen „Bild"-Chefredakteur und Herausgeber Kai Diekmann. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte sich einst in China für Wirecard stark gemacht.
Doch spätestens seit 2015 schossen nach Ansicht der Anklage nicht nur Bilanzsummen, Gewinne und der Aktienkurs in die Höhe – sondern es gab vermehrt Luftbuchungen, Geschäfte, die nur auf dem Papier existierten. „Die letzten Jahre waren die Chefs größenwahnsinnig und höchst kriminell", sagte die ehemalige Wirecard-Beschäftigte Lisa B. (Name geändert) im Frühjahr in einem Gespräch mit dieser Zeitung. Jörn Leogrande hatte die Wirecard-Innovationsabteilung geleitet und bilanzierte Ende März: „Die meiste Zeit meines beruflichen Lebens war ich auf dem falschen Dampfer." Über Jahre fiel Wirecard nicht auf bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin), es wurde viel zu lax kontrolliert. Und die Prüfgesellschaft Ernst & Young hatte offenbar regelmäßig die Augen zugedrückt und dem Techunternehmen ordentliche Buchführung attestiert. Bis dann im Juni bekannt wurde, dass in Singapur gebuchte 1,9 Milliarden Euro nicht aufzufinden waren. Die Firma ging binnen Stunden pleite, Aktionäre verloren 20 Milliarden Euro. Eine wichtige Person sitzt in München nicht auf der Anklagebank: das einstige Vorstandsmitglied Jan Marsalek, ein Österreicher wie Markus Braun auch. Marsalek gelang eine filmreife Flucht. Er hatte Spuren in die Philippinen und nach China gelegt, war aber wohl über Belarus nach Moskau gereist. Ihm werden vielfältige Kontakte zu österreichischen und russischen Geheimdienstlern nachgesagt. Wahrscheinlich lebt er jetzt in einer Geheimdienst-Villa nahe der russischen Hauptstadt. Er ist international zur Fahndung ausgeschrieben.