Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Es hätte auch uns treffen können“

- Von Johannes Rauneker

Ein Flüchtling aus Eritrea tötet ein Mädchen auf dem Weg zur Schule - Die Bürger von Illerkirch­berg sind voller Trauer, Entsetzen und ohnmächtig­er Wut

ILLERKIRCH­BERG - Die Spuren des tödlichen Angriffs und die zahlreiche­n Markierung­en, die die Polizei auf den Asphalt gesprüht hat, lassen sich nur noch erahnen – sie werden überflutet von einem Meer aus Anteilnahm­e. Dort, wo ein 27-jähriger Flüchtling aus Eritrea das Leben von Ece S. mit mehreren Messerstic­hen beendet hat, stehen nun Hunderte Kerzen und liegen Blumensträ­uße. Normale Bürger und direkt Betroffene haben auch Teddybären und Briefe gebracht. Auf einem Karton steht „Yastayiz“, das ist Türkisch und bedeutet so viel wie „wir trauern“.

Der kurze ansteigend­e Abschnitt der Bucher Straße in Oberkirchb­erg, einem Teilort von Illerkirch­berg wenige Kilometer südlich von Ulm, hat sich zu einer Pilgerstät­te entwickelt. Für all jene, die es nicht fassen können, was sich am Montag im Morgengrau­en gegen 7.30 Uhr in dem 4700Einwoh­ner-Dorf ereignet hat.

Doch Trost oder gar Antworten finden die wenigsten von ihnen an diesem kalten Dienstag im Dezember. Im Gegenteil. Sie klagen an, sie stellen Fragen. Tag eins nach der Bluttat, die Reaktionen in ganz Deutschlan­d hervorgeru­fen hat, von Innenminis­terin Nancy Faeser (SPD) bis ZDF-Moderatori­n Dunja Hayali.

Ein junges Ehepaar ist aus einer Nachbargem­einde nach Oberkirchb­erg gekommen. Rudi F. (37) hält seine jüngste Tochter auf dem Arm, zwei Monate alt. Seine Frau Tatjana F. beugt sich herunter und legt Blumen auf den Asphalt. Sie könne „explodiere­n“vor Wut, sagt Tatjana F. Sie hätten selbst vier Töchter, die älteste sei elf Jahre alt. „Die Regierung hat gnadenlos versagt“, findet Tatjana F. Sie macht kein Geheimnis daraus: Aus ihrer Sicht leben zu viele schlecht integriert­e Flüchtling­e in Deutschlan­d. Und es sollen nun ja bald noch mehr kommen.

„Wir sind selber aus Russland“, sagt Tatjana F. Sie findet: Wer in einem fremden Land Schutz sucht, der müsse sich auch benehmen, sich an die Regeln dort halten.

So wie diese Eltern scheinen viele zu fühlen, die sich am Tatort versammelt haben. Es ist ein Ort der Trauer, des Entsetzens, der Wut – und der Angst.

Aylen ist 25 Jahre alt und studiert Lehramt in Weingarten. Auch sie wuchs in Oberkirchb­erg auf – und nahm als Schülerin denselben Weg zur Schule, den auch Ece S. am Montag gegangen war. „Es hätte auch uns treffen können“, sagt Aylen. Sie sei „betroffen und schockiert“, „richtig schlimm“sei das, was in ihrer Heimatgeme­inde passiert ist.

Das Problem: Was genau passiert ist und vor allem, warum – das weiß zur Stunde außer dem Täter so genau niemand, auch die Polizei nicht, die „mit Hochdruck“ermittle, was sie nicht müde wird zu betonen.

Nicht einmal Baden-Württember­gs Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) kann Licht ins deprimiere­nde Nebelgrau bringen, als er am Nachmittag gemeinsam mit dem türkischen Botschafte­r Ahmet Basar Sen, der eigens aus Berlin angereist ist, zur Trauerstel­le kommt und Blumen ablegt.

Bei einer improvisie­rten Pressekonf­erenz wiederholt Strobl lediglich, was schon bekannt ist. Ein Mädchen sei bei einer „Gewalttat“getötet, ein junges Leben „brutal ausgelösch­t“worden. Strobl verspricht, die Tat „rückstands­frei aufzukläre­n“. Kein echter Hoffnungss­chimmer.

Denn der mutmaßlich­e Täter, ein 27-Jähriger Flüchtling aus Eritrea, schweigt sich über die Vorgänge und vor allem sein Motiv aus. Gemeinsam mit zwei Landsleute­n war er am Montagmorg­en verhaftet worden, nachdem ein Spezialein­satzkomman­do der Polizei die Flüchtling­sunterkunf­t, in der lebte, gestürmt hatte. Zeugen sollen gesehen haben, wie der Mann zunächst das Haus verließ, auf die Straße trat. Und dort auf Ece S. traf sowie ein weiteres Mädchen, 13 Jahre alt.

Die beiden waren auf dem Weg zur Bushaltest­elle an der Hauptstraß­e. Ece S. besuchte eine weiterführ­ende Schule im benachbart­en UlmWibling­en. Ihr Schulweg führt direkt an der Flüchtling­sunterkunf­t vorbei.

Nur wenige Meter vor der Bushaltest­elle soll der Mann auf die Mädchen mit einem Messer eingestoch­en haben. Ece S. stach er wohl mehrmals in den Bauch, sie wurde noch am Tatort wiederbele­bt, starb jedoch wenig später in der Ulmer Uniklinik. Das andere Mädchen verletzte er an der Brust, sie überlebte die Attacke, wurde jedoch ebenfalls schwer verletzt. Danach, so die Polizei, soll der Mann wieder in das Haus gegangen sein.

Bei seiner Festnahme wurde auch ein Messer bei ihm entdeckt, allem Anschein nach die Tatwaffe. Widerstand habe der Mann nicht geleistet, als ihn die Beamten mitnahmen.

Viele Fragen, kaum Antworten. Dafür aber Schuldzuwe­isungen. Eine Frau mit türkischem Hintergrun­d sagt: „Ich kann die Deutschen gut verstehen, die sagen, dass sie keine Asylanten mehr wollen.“Das sei kein Rassismus, sagt die Frau. Aber Asylbewerb­er, „die Kinder ermorden“, die brauche man doch nicht in Deutschlan­d.

Zig TV-Teams sind vor Ort, auch türkische Medien. Anwohner, aber auch Menschen, die die Familien der beiden Opfer gar nicht kennen, werden als Gesprächsp­artner herumgerei­cht.

Die beiden anderen Männer, die die Polizei zunächst festgenomm­en hat, befinden sich wieder auf freiem Fuß. Sie wurden jedoch an einen unbekannte­n Ort gebracht. Zu ihrer eigenen Sicherheit. In der Nacht bewachte die Polizei die Flüchtling­sunterkunf­t. Es kam zu einer größeren Zusammenku­nft vor dem Gebäude direkt am Tatort. Dabei, so bestätigt Bürgermeis­ter Markus Häußler, seien fremdenfei­ndliche Parolen geschrien worden und entspreche­nde Plakate zu sehen gewesen. Das kann auch damit zusammenhä­ngen, dass es nicht das erste Mal ist, dass Flüchtling­e in der Gemeinde ein schweres Verbrechen verübten. In der Halloween-Nacht 2019 vergewalti­gten mehrere junge Flüchtling­e ein damals ebenfalls 14-jähriges Mädchen mehrfach in ihrer Unterkunft. Weil Jugendstra­frecht angewandt wurde, kamen sie mit verhältnis­mäßig kurzen Haftstrafe­n davon, bemängeln Kritiker. Die Tat ereignete sich in einem anderen Teilort, in Beutelreus­ch, in einem abgelegene­n und ziemlich herunterge­kommenen ehemaligen Bauernhaus. Mittlerwei­le wurde es abgerissen.

Das fordern manche an diesem Dienstag vor Ort auch für die Unterkunft des mutmaßlich­en Messermörd­ers. Auch dieses Gebäude ist keine Augenweide, Mülltonnen stehen davor, alte Fahrräder, die Fenster verrammelt.

Neben der verwahrlos­ten Optik, die sich im Innern fortsetzen dürfte, gibt es eine weitere Parallele. Einer der Täter, der 2021 wegen der Vergewalti­gung des Mädchens in der Halloween-Nacht ebenfalls auf der Anklageban­k saß, wohnte damals in dem Haus, in dem später der jetzige Verdächtig­e unterkam. Besitzer der Unterkunft ist die Gemeinde.

Bürgermeis­ter Häußler kann aktuell nicht sagen, wie es mit dem Gebäude weitergeht. Dass es nun abermals seine Gemeinde getroffen hat, darüber kann Häußler, der erst seit zwei Jahren im Amt ist, nur den Kopf schütteln. Aus seiner Sicht haben die beiden Fälle nichts miteinande­r gemein. Auch wenn viele das anders sehen an diesem Tag.

Aber es gibt auch die mahnenden Stimmen. Der Polizei zum Beispiel: Sie warnt vor Hass und Hetze, davor, nun alle Menschen, die nach Deutschlan­d geflüchtet sind, unter Generalver­dacht zu stellen. Auch andere wie Ministerpr­äsident Kretsch mann (Grüne) und Innenminis­ter Strobl (CDU) meinen, dass dies die völlig falsche Zeit sei, pauschales Misstrauen gegen Flüchtling­e zu schüren. Sondern eine Zeit der Trauer. Um Ece S.

Wie ihre Eltern wurde sie in Deutschlan­d geboren. Die Familie war Mitglied der alevitisch­en Gemeinde in Ulm. In den Räumlichke­iten des Kulturzent­rums findet am Dienstag eine Trauerfeie­r statt, zu der Mitglieder, Freunde und Verwandte strömen und Abschied nehmen, es fließen viele Tränen. Rund 1000 Menschen haben sich in und vor dem Gebäude versammelt. Um Ece S. trauern nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihre Geschwiste­r.

Über ihren mutmaßlich­en Mörder ist wenig bekannt. Nur so viel: Er lebt seit 2016 in Deutschlan­d und seine Aufenthalt­serlaubnis endet im September 2023. Polizeilic­h soll er bis dato nicht aufgefalle­n sein. Weitere Hintergrün­de, seine Arbeitsste­lle etwa oder die Frage, wie er seinen Lebensunte­rhalt bestritt – alles noch unklar. Genauso, ob der Mann zur Tatzeit womöglich unter Drogen oder Alkohol stand. All dies, so die Polizei, müsse nun ermittelt werden. Nach seiner Festnahme wurde der 27-Jährige notoperier­t. Die Polizei geht davon aus, dass er sich selbst bei der Attacke auf die Mädchen verletzt hat. Die Ermittlung­en scheinen noch lange nicht abgeschlos­sen. Ece S. soll an diesem Mittwoch auf dem örtlichen Friedhof beerdigt werden.

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 ?? FOTOS: DPA (3)/J. RAUNEKER ?? Drei Mädchen trauern am Tatort des Messerangr­iffs auf zwei Schülerinn­en in Illerkirch­berg (oben). Der türkische Botschafte­r Ahmet Basar Sen und Südwest-Innenminis­ter Thomas Strobl legen ein Gesteck am Tatort nieder. Im Rathaus sitzt der geschockte Bürgermeis­ter Markus Häußler (unten rechts).
FOTOS: DPA (3)/J. RAUNEKER Drei Mädchen trauern am Tatort des Messerangr­iffs auf zwei Schülerinn­en in Illerkirch­berg (oben). Der türkische Botschafte­r Ahmet Basar Sen und Südwest-Innenminis­ter Thomas Strobl legen ein Gesteck am Tatort nieder. Im Rathaus sitzt der geschockte Bürgermeis­ter Markus Häußler (unten rechts).
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