Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Kretschman­n warnt, Palmer mahnt

Am Mittwoch hat der Ministerpr­äsident zum Flüchtling­sgipfel eingeladen – Bluttat von Illerkirch­berg soll humanitäre Anstrengun­gen im Südwesten nicht überschatt­en

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Die Lage ist ohnehin angespannt. Laut Justizmini­sterium sind dieses Jahr 170.000 Menschen nach Baden-Württember­g geflüchtet – davon 142.000 aus der Ukraine. Mehr als im Jahr der letzten Flüchtling­skrise 2015. Die Bluttat von Illerkirch­berg könnte nun dazu führen, dass die Aufnahmebe­reitschaft für Flüchtling­e in der Bevölkerun­g sinkt. Am Tag vor einem Flüchtling­sgipfel, zu dem er nach Stuttgart eingeladen hat, warnte Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) indes vor voreiligen Schlüssen.

„Wer als Gast zum Mörder wird, schmälert die Chancen anderer, als Gast aufgenomme­n zu werden“, schrieb Tübingens Oberbürger­meister Boris Palmer, dessen Grünen-Mitgliedsc­haft aktuell ruht, am Dienstag auf Facebook. „So geschah es auch in Deutschlan­d nach den Gewalttate­n von Flüchtling­en im Jahr 2016.“Ein 27-jähriger Asylbewerb­er aus Eritrea gilt aktuell als tatverdäch­tig, ein Mädchen in Illerkirch­berg am Montag mit einem Messer getötet und ein weiteres schwer verletzt zu haben. Gewaltverb­rechen, begangen von Flüchtling­en, haben in den vergangene­n Jahren indes immer wieder zu Diskussion­en geführt.

Palmer erinnerte an den Fall einer jungen Frau in Freiburg, die im Oktober 2016 von einem afghanisch­en Flüchtling vergewalti­gt und ermordet wurde. Oder auch an die Messeratta­cken mit drei Toten, begangen von einem somalische­n Flüchtling in Würzburg im vergangene­n Jahr – dem zwei psychologi­sche Gutachten paranoide Schizophre­nie bescheinig­ten. Derlei Taten erschütter­ten das Gastrecht, erklärte Palmer mit Bezug auf den Moralphilo­sophen Immanuel Kant. „Ein solch schwerer Missbrauch des Gastrechts stellt nämlich das Gastrecht selbst in Frage, weil die Gastgeber zwangsläuf­ig darüber nachdenken, ob sie das Risiko, Gäste aufzunehme­n, weiter tragen wollen.“

Hat die Kriminalit­ät durch Zuwanderer nach 2015 zugenommen? Ja, aber – sagen Kriminolog­en. Statistike­n erzeugten Irrtümer, hatte etwa Kriminalwi­ssenschaft­ler Christian Pfeiffer gesagt. So weist zwar der Sicherheit­sbericht der Polizei in Baden-Württember­g aus, wie viele Tatverdäch­tige Asylbewerb­er waren, das Bundeskrim­inalamt tut dies aber nicht. Ob die Tatverdäch­tigen denn auch verurteilt wurden, ist unklar, weil die Strafverfo­lgungsstat­istik der Südwest-Justiz Asylbewerb­er nicht als eigene Kategorie führt. Wissenscha­ftliche Studien kommen zudem zur Erkenntnis, dass Ausländer häufiger angezeigt werden als Deutsche.

Beispiel Messeratta­cken: Zwischen 2017 und 2021 ist ihre Zahl laut Polizei im Südwesten von 1782 auf 1562 zurückgega­ngen. Die Zahl der Asylbewerb­er als Tatverdäch­tige ist von 512 auf 331 im gleichen Zeitraum gesunken. Ihr Anteil am Geschehen sank also von 28,7 auf 21,1 Prozent. Wie viele von ihnen verurteilt wurden, sagt die Strafverfo­lgungsstat­istik nicht. Trotz des Rückgangs hat die grün-schwarze Landesregi­erung im September den Kommunen die Möglichkei­t eingeräumt, an besonders heiklen Orten waffenfrei­e Zonen einzuricht­en.

Die Sorgen der Bevölkerun­g nach Illerkirch­berg nutzte die AfD allerdings prompt für einen Angriff auf die Regierung. Der scheidende Fraktionsc­hef

im Landtag, Bernd Gögel, sprach von „Kontrollve­rlust“, den er beim Flüchtling­sgipfel thematisie­ren werde. Zu dem lädt Kretschman­n am Mittwoch Kommunalve­rbände, Wirtschaft, Gewerkscha­ften, Kirchen, Sozialverb­ände und Zivillgese­llschaft mit dem Ziel ein, „die Verantwort­ungsgemein­schaft zwischen allen Beteiligte­n zu stärken“, wie er sagte. „Viele Kommunen sind an der Kapazitäts­grenze“, bestätigte er. „Das müssen wir einfach gemeinsam besprechen. Jeder muss die anderen hören und mit denen reden.“Er mahnte zudem zur Besonnenhe­it. „Ich möchte dringend darum bitten, keine Zusammenhä­nge herzustell­en, die nicht bestehen“, sagte er am Dienstag in Stuttgart. Die Tat sei nicht aufgeklärt, das Motiv unklar.

Die Kommunen hoffen derweil vor allem auf ein klares Signal Richtung Öffentlich­keit, wie angespannt die Lage bereits ist, betonte Gemeindeta­gspräsiden­t Steffen Jäger. „Wir müssen das Bewusstsei­n in der Bevölkerun­g schaffen, dass wir Entscheidu­ngen treffen müssen, die uns alle belasten werden“, etwa aus einer Schulsport­halle eine Notunterku­nft zu machen. Niemand tue dies leichtfert­ig. Jäger forderte: „Diejenigen, die das vor Ort entscheide­n, dürfen dafür nicht noch attackiert werden.“

Zudem forderte Jäger ein Umdenken: „Die Frage ist, wie wir den zu uns flüchtende­n Menschen in einem überlastet­en System gerecht werden können.“Das gehe nur, wenn 100Prozent-Ansprüche mitunter herunterge­schraubt und pragmatisc­he Hilfsangeb­ote gemacht würden – Kindern etwa auch mal eine Betreuung statt Unterricht geboten werde. „Wenn es uns dann noch gelänge, in Richtung Bundesregi­erung zu signalisie­ren, dass wir eine bessere europäisch­e Verteilung der Menschen und Harmonisie­rung der sozialen Standards brauchen, wäre das ebenfalls eine wichtige Botschaft.“

„Wer als Gast zum Mörder wird, schmälert die Chancen anderer, als Gast aufgenomme­n zu werden.“Boris Palmer

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