Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Karlsruhe lässt EU-Schulden zu

Niederlage für Kritiker – Bundesverf­assungsger­icht beanstande­t Kreditaufn­ahme für den EU-Corona-Fonds nicht

- Von Christian Rath

KARLSRUHE - Die EU darf zur Bewältigun­g der Pandemiefo­lgen Kredite aufnehmen, obwohl dies in den EU-Verträgen nicht ausdrückli­ch vorgesehen ist. Dies entschied an diesem Dienstag das Bundesverf­assungsger­icht und lehnte die Klagen von EU-Skeptikern ab. In seinem Urteil nannte das Gericht Bedingunge­n für die Kreditaufn­ahme der EU.

Konkret ging es um den sogenannte­n Wiederaufb­aufonds der EU. Mit 750 Milliarden Euro sollen damit die coronabedi­ngten Belastunge­n der europäisch­en Volkswirts­chaften ausgeglich­en werden. Das beschloss ein EU-Gipfel im Juli 2020. Etwa die Hälfte wird an die EU-Staaten als Zuschüsse ausbezahlt, der Rest als Darlehen. Deutschlan­d soll rund 28 Milliarden Euro erhalten. Die EU nennt das Programm „Next Generation EU“, weil das Geld zu großen Teilen in Digitalisi­erung und Klimaschut­z investiert werden muss. Bis 2023 sollen die Milliarden auf der Grundlage von nationalen Wiederaufb­auplänen an die Mitgliedst­aaten ausbezahlt werden.

Der Aufbaufond­s ist bei EUSkeptike­rn umstritten, weil die EU damit erstmals in großem Umfang am Kapitalmar­kt Schulden aufnehmen darf. Das Geld muss bis 2058 zurückbeza­hlt werden. Gegen das Schuldenpr­ogramm klagte einerseits Wirtschaft­sprofessor Bernd Lucke, einst Gründer der AfD. Die zweite Verfassung­sbeschwerd­e stammte von dem Unternehme­r Heinrich Weiß, Anfang der 1990erJahr­e Präsident des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie (BDI). Die Kläger monierten vor allem, dass die

EU ihre Kompetenze­n überschrit­ten habe. Es gebe auf EU-Ebene ein „Verschuldu­ngsverbot“.

Der Zweite Senat des Bundesverf­assungsger­ichts lehnte beide Klagen nun ab. Die EU habe ihre Kompetenze­n „nicht offensicht­lich“verletzt. Es sei vertretbar, die EU-Verträge so auszulegen, dass die EU solche Programme mit Krediten finanziere­n darf. Die Richter nehmen damit Bezug auf eine eigene Entscheidu­ng von 2010, den sogenannte­n „Honeywell-Beschluss“, wonach sie etwaige Kompetenzü­berschreit­ungen der EU nur rügen werden, wenn diese „strukturel­l bedeutsam“und „offensicht­lich“sind. Denn eigentlich ist ja der Europäisch­e Gerichtsho­f für die Kontrolle von EURecht

zuständig, nicht ein nationales Verfassung­sgericht.

Das Bundesverf­assungsger­icht akzeptiert­e nun also die Auslegung der EU-Gremien und des Bundestags, wonach die EU zwar nicht generell Schulden aufnehmen darf, die Kreditaufn­ahme allerdings als „sonstige Einnahme“gemäß Artikel 311 EU-Arbeitsver­trag in Einzelfäll­en zulässig sein kann. Die Schulden müssen dann aber der Finanzieru­ng eines Zweckes dienen, für den die EU bereits jetzt eine Kompetenz in den EU-Verträgen hat. Im Fall des Corona-Wiederaufb­aufonds sei es die Befugnis, den Mitgliedst­aaten in Notsituati­onen gemäß Artikel 122 EU-Arbeitsver­trag zu helfen. Weil solche Notsituati­onen oft überrasche­nd kommen, sei hier eine Kreditaufn­ahme ununmgängl­ich.

Die Verfassung­srichter räumen aber ein, dass die Argumentat­ion juristisch etwas gewagt ist und listen selbst eine Reihe von Bedenken auf. So seien die „sonstigen Einnahmen“bisher vernachläs­sigbar gering gewesen, während sie nun plötzlich zwei Drittel des normalen EU-Haushalts ausmachen. Auch hätten die Ausgaben für Klimaschut­z nur bedingt etwas mit der Corona-Pandemie zu tun. Doch die Richter kommen immer wieder zum Schluss, es sei „nicht offensicht­lich ausgeschlo­ssen“, dass die EU-Verträge eingehalte­n sind.

Für künftige Fälle stellen die Richter aber mehrere Bedingunge­n auf. So muss eine EU-Schuldenau­fnahme im EU-Eigenmitte­lbeschluss geregelt werden, das heißt: alle EUStaaten (und in Deutschlan­d auch der Bundestag) müssen zustimmen. Die Kreditaufn­ahme muss streng auf einen EU-vertraglic­hen Zweck begrenzt, zeitlich befristet und in der Höhe beschränkt werden. Diese Bedingunge­n des Bundesverf­assungsger­ichts sind aber recht großzügig. So dürfte die EU mit Segen aus Karlsruhe immerhin so viel Schulden machen, wie sie klassisch über Beiträge der Mitgliedss­taaten und Zölle einnimmt.

Das Urteil war am Gericht durchaus umstritten. Immerhin hat das Bundesverf­assungsger­icht noch vor zwei Jahren die Anleiheank­äufe der Europäisch­en Zentralban­k und deren mangelhaft­e Kontrolle durch den Europäisch­en Gerichtsho­f als Kompetenzü­berschreit­ungen beanstande­t. Diesmal plädierte aber nur ein einziger Verfassung­srichter, der ehemalige saarländis­che CDU-Ministerpr­äsident Peter Müller, in einem Sondervotu­m für strengere Maßstäbe. Er wolle nicht den Weg in eine „Fiskal- und Transferun­ion“öffnen, argumentie­rte Müller. Denn Gründe für neue Schulden gebe es bei „kreativer“Auslegung der Verträge immer.

Finanzstaa­tssekretär Florian Toncar (FDP) sagte in Karlsruhe nach dem Urteil: „Wir sehen uns darin bestätigt, dass der Bundestag und die Bundesregi­erung verfassung­skonform gehandelt haben.“Aus Sicht des Bundesfina­nzminister­iums sei das Verfassung­surteil eine gute Nachricht für die wirtschaft­liche Erholung in Europa nach der Pandemie.

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FOTO: ULI DECK/DPA Die Verfassung­srichter Peter Huber, Doris König und Monika Hermanns (von links) verkünden am Dienstag das Urteil zum milliarden­schweren EU-Corona-Fonds: Demnach sind die Verfassung­sbeschwerd­en erfolglos.

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