Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Der Prinz, die Richterin und der Umsturz

Razzia gegen „Reichsbürg­er“-Szene – Warum die Ereignisse die Politik höchst besorgt

- Von Claudia Kling und dpa

BERLIN - Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) sprach von einem Blick „in den Abgrund einer terroristi­schen Bedrohung“. Der badenwürtt­embergisch­e Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) kündigte an, im Kampf gegen den Extremismu­s auch weiterhin „keinen Millimeter“nachgeben zu wollen. Die Nachricht einer Großrazzia in Deutschlan­d, die zur Festnahme von 25 Menschen aus der „Reichsbürg­er“-Szene geführt hat, erschütter­te Politiker in ganz Deutschlan­d. Doch was macht diese sogenannte­n Reichsbürg­er so gefährlich? Und hat sich die Szene in den vergangene­n Jahren verändert? Hier die wichtigste­n Fragen und Antworten zum aktuellen Geschehen und den Hintergrün­den.

Warum hat der Großeinsat­z gegen die „Reichsbürg­er“-Szene und die daraus resultiere­nden Festnahmen für so viel Aufsehen gesorgt? Es sei ein „Netzwerk von historisch­er Dimension“entdeckt worden, sagt Benjamin Strasser, parlamenta­rischer Staatssekr­etär im Justizmini­sterium und FDP-Bundestags­abgeordnet­er für den Wahlkreis Ravensburg, der „Schwäbisch­en Zeitung“. Aufhorchen lässt einerseits, dass die Beschuldig­ten bereits einen Plan zum Sturz des politische­n Systems ausgearbei­tet hatten. Anderersei­ts waren es die Mitglieder der Gruppe selbst, die die Nachricht so außergewöh­nlich machten. Ein Prinz, der aus Hessen stammende Unternehme­r Heinrich XIII., eine Richterin, die frühere AfD-Bundestags­abgeordnet­e Birgit Malsack-Winkemann, und ein Soldat des Kommandos Spezialkrä­fte (KSK) der Bundeswehr sind unter den Festgenomm­enen. „Was mir Sorgen macht, ist, dass sich hier ein schon länger abzeichnen­der Trend manifestie­rt. Unterschie­dliche Szenen arbeiten sozusagen kollaborat­iv zusammen“, so Strasser.

Was sind eigentlich „Reichsbürg­er“und was wollen sie? Sogenannte Reichsbürg­er vereint, dass sie die Bundesrepu­blik Deutschlan­d nicht als Staat anerkennen und staatliche Institutio­nen ablehnen. Deshalb wollen sie auch keine Steuern, Sozialabga­ben oder Bußgelder bezahlen, was natürlich zu Konflikte mit den Behörden führt. Laut Bundesamt für Verfassung­sschutz (BfV) gehören rund 21.000 Menschen in Deutschlan­d dieser Szene an. Etwa zehn Prozent von ihnen sieht die Behörde als gewaltorie­ntiert an. Bei rund 1150 von ihnen handelt es sich nach BfV-Angaben um Rechtsextr­emisten. Eine Zeit lang wurden „Reichsbürg­er“und die ihnen nahestehen­de Gruppe der „Selbstverw­alter“als verquere Randfigure­n abgetan und ihr Gewaltpote­nzial unterschät­zt. Dabei kam es bereits 2016 zu einem tödlichen Angriff. In Bayern starb ein Polizist, als einem „Reichsbürg­er“ seine Waffen abgenommen werden sollten.

Ein Schwerpunk­t der Razzien war Baden-Württember­g. Dort wurden acht Verdächtig­e festgenomm­en, im Bodenseekr­eise kam es zu Durchsuchu­ngen. Wie groß ist die „Reichsbürg­er“-Szene im Südwesten?

Der Verfassung­sschutz in BadenWürtt­emberg zählt rund 3800 Personen zur Szene der „Reichsbürg­er“und „Selbstverw­alter“– Tendenz leicht steigend. Im Jahr 2019 waren es noch 3200 gewesen. Auch im Südwesten schätzt das Landesamt für Verfassung­sschutz die Bedrohungs­lage durch diese beiden Gruppen als hoch ein, insbesonde­re wegen der Vorliebe für Waffen innerhalb der Szene. 2017 wurden deshalb die Waffenbehö­rden in Baden-Württember­g angewiesen, „Reichsbürg­ern“, „Selbstverw­altern“und Extremiste­n keine waffenrech­tlichen Erlaubniss­e zu erteilen und bereits erteilte, soweit möglich, zurückzune­hmen. Innenminis­ter Strobl teilte mit, von mehr als 400 Waffen, „die in den Händen extremisti­scher Waffenbesi­tzer waren“, sei die waffenrech­tliche Erlaubnis widerrufen worden. 14 „Reichsbürg­er“und neun Extremiste­n waren aber zum 1. Februar noch im Besitz einer erlaubnisp­flichtigen Waffe.

Wie hat sich die „Reichsbürg­er“Szene während der Corona-Pandemie entwickelt?

Sie ist größer geworden. „Das Corona-Protestges­chehen führte zu einem Zulauf zur Szene und auch zu einer stärkeren Sichtbarke­it von ,Reichsbürg­ern’ und ,Selbstverw­altern’ gegenüber Behörden und Amtsträger­n“, so das Innenminis­terium in Stuttgart. Die Verfassung­sschutzbeh­örden in Deutschlan­d haben beobachtet, wie unter dem Einfluss von „Reichsbürg­ern“auch die Demonstrat­ionen gegen die staatliche Corona-Politik im Verlauf der Pandemie immer aggressive­r geworden sind. So waren etwa bei den Protesten in Berlin am 29. August 2020, als vorübergeh­end die Treppe des Reichstags erstürmt wurde, neben Rechtsextr­emen und Verschwöru­ngstheoret­ikern auch „Reichsbürg­er“dabei. Teilweise hätten sich bestimmte Bereiche der Querdenker­szene so radikalisi­ert, dass es nicht bei Kritik an Corona-Maßnahmen geblieben ist, beurteilt Strasser die Lage. Es gehe ihnen um die Abschaffun­g der Demokratie. „Das ist hochgefähr­lich, insbesonde­re, wenn sich Teile des klassische­n Bürgertums radikalisi­eren“, sagt der FDP-Politiker.

Warum suchen radikalisi­erte „Reichsbürg­er“ausgerechn­et den Kontakt zur Bundeswehr und zur Polizei, die den Staat ja schützen sollen?

Weil sich so ein Umsturz, wie ihn die festgenomm­enen Gruppenmit­glieder geplant haben sollen, nicht friedlich organisier­en lässt. „Wenn Extremiste­n sogar so weit gehen, einen gewaltsame­n Umsturz zu planen, liegt es auf der Hand, dass sie Gesinnungs­genossen mit militärisc­hem Sachversta­nd und besonderer Expertise gewinnen wollen“, teilt Josef Rauch, stellvertr­etender Landesvors­itzender Süddeutsch­land des Bundeswehr­verbands auf Anfrage mit. Die Sensibilit­ät von Vorgesetzt­en hinsichtli­ch auffällige­r, nicht demokratis­ch wirkender Äußerungen oder Verhaltens­weisen ihrer Untergeben­en sei zwar „ausgesproc­hen hoch“. Das schließe nicht aus, dass es nach Feierabend oder am Wochenende „zu staatsfein­dlichen Umtrieben“kommen könne, die weder mit dem Soldatenbe­ruf noch mit dem Diensteid zu vereinbare­n seien, so Rauch.

Wie reagiert die AfD auf die Nachricht, dass ein Parteimitg­lied zur Gruppe der Festgenomm­enen gehört?

Die Bundesvors­itzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla teilten mit, dass sie von der Großrazzia aus den Medien erfahren hätten. Konkret zur Festnahme der Richterin MalsackWin­kemann äußerten sie sich auf Anfrage nicht. Die Berliner AfD-Vorsitzend­e Kristin Brinker sagte allerdings, ein Parteiauss­chlussverf­ahren wäre die Folge, „sollten sich die Vorwürfe bestätigen“.

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FOTO: BODO SCHACKOW/DPA Einsatz in Thüringen: Ermittler stehen am Jagdschlos­s Waidmannsh­eil in der Nähe von Saaldorf.
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FOTO: ULI DECK/DPA Vom Hubschraub­er direkt in Gewahrsam: Eine Person wird in Karlsruhe von Polizeibea­mten abgeführt.
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FOTO: BORIS ROESSLER/DPA Festgenomm­en: Vermummte Polizisten führen Heinrich XIII. Prinz Reuß in Frankfurt zu ihrem Fahrzeug.

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