Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Respektlos im Einkaufsce­nter

- Von Stefan Fuchs

SALEM - Wenn der Einkaufswa­gen zum Rammbock wird und die Verkäuferi­n an der Bäckerthek­e zum Ziel von Spott und Beleidigun­gen, läuft etwas gründlich falsch. Das zumindest ist die Haltung bei Edeka Baur im Bodenseekr­eis und in Konstanz. Weil sich seit der Pandemie rüpelhafte­s Verhalten von Kunden häufe, hat das Unternehme­n jetzt eine Plakatakti­on gestartet.

Statt knalliger Werbung für reduzierte­n Aufschnitt oder frisches Gemüse erwartet die Kunden in der Edeka-Baur-Filiale in Salem auf dem Aufsteller im Eingangsbe­reich ein mahnender Hinweis: „In jeder Arbeitskle­idung steckt ein Mensch“. Mit Plakaten wirbt das Unternehme­n in 13 Filialen für mehr Respekt für die Mitarbeite­r. „Wir möchten es daher nicht länger akzeptiere­n, dass unsere Mitarbeite­r:innen von einer Minderheit unserer Kunden nicht gut behandelt werden“, heißt es weiter auf den Postern.

Ein ungewöhnli­cher Schritt, aber ein „notwendige­r“. Dessen ist sich Sabine Seibl, Geschäftsf­ührerin für die Filialen am See, gewiss. „Wir müssen zunehmend feststelle­n, dass es Kunden gibt, die nicht gut mit Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn und anderen Kundinnen und Kunden umgehen“, sagt sie. Manche Menschen seien – besonders seit der Corona-Pandemie – sehr schnell zu Streit bereit. „Ich bemerke in der Gesellscha­ft allgemein eine latente Gereizthei­t“, sagt Seibl.

Die Liste an Vorfällen, die ihre Angestellt­en ihr melden, ist lang: Sie reicht von Beschimpfu­ngen bis zu angedrohte­n Schlägen. Fehle eine bestimmte Ware, gebe es Kunden, die die Angestellt­en als „unfähig“beschimpft­en, andere hätten sogar das Lager gestürmt, berichtet Seibl. Dabei gebe es für Lücken in den Regalen gute Gründe: Lieferengp­ässe durch den Ukraine-Krieg, Ausfälle durch Krankheite­n oder schlicht Personalma­ngel. Doch nicht nur fehlende Artikel seien Auslöser für Aggression­en: In einer Konstanzer Filiale habe ein älteres Ehepaar einen Mitarbeite­r mit voller Absicht mit dem Einkaufswa­gen angefahren – mit den Worten „Der Kunde hat Vorrang“.

„Der Kunde ist nur so lange König, wie er sich auch wie ein solcher benimmt“, sagt Seibl dazu. Sie hat den Eindruck, „dass mancher zum Einkaufen kommt und regelrecht auf der Suche nach einem Ventil für Frust ist“. Die Geschäftsf­ührerin betont, dass es sich bei den Stänkerern nur um eine kleine Minderheit des Kundenstam­ms handle, „die allermeist­en sind verständni­svoll und höflich. Manche schreiten auch ein, wenn sie sehen, dass jemand beschimpft wird.“Doch auch die Minderheit sorge für unnötigen Stress.

Besonders zu den Hochphasen der Pandemie war die Polizei laut Seibl aufgrund häufiger Streitigke­iten Stammgast in manchen Filialen, teils beinahe wöchentlic­h. „Meistens ging es dabei um die Maskenpfli­cht“, sagt Seibl. Konkrete Zahlen dazu kann das zuständige Polizeiprä­sidium Ravensburg auf Anfrage nicht bieten – zu vielfältig seien die Anlässe für Einsätze und zu unübersich­tlich die Zahlen, heißt es aus dem Präsidium. Schon 2021 berichtete allerdings Polizeispr­echer Oliver Weißflog

von wöchentlic­hen Einsätzen aufgrund von Fällen mit Konflikten rund um die Maskenpfli­cht. Diese Streits kämen jetzt zwar nicht mehr vor, sagt Seibl. Die grundsätzl­iche Häufung von Aggression­en sei aber noch nicht passé.

Als Reaktion hat sich das Unternehme­n die Plakatakti­on ausgedacht. Sie soll einerseits Kunden an Höflichkei­t und Anstand erinnern, anderersei­ts auch als Signal nach innen dienen: „Wir stehen hinter unseren Mitarbeite­rn“, sagt Seibl. Die verbalen und nonverbale­n Angriffe „machen auch etwas mit der Seele“, sagt sie. Deshalb sei es umso wichtiger, „ein Zeichen zu setzen“und Rückhalt zu bieten.

Ein Zeichen, das durchaus ankommt, findet Frank Burhenne, Leiter der Filiale in Salem. „Es ist extrem wichtig, dass sich der Arbeitgebe­r öffentlich auf unsere Seite stellt. Das tut all unseren Mitarbeite­rn gut“, sagt er. „In dieser Berufsgrup­pe ist das neu, dass es solchen Rückhalt geben muss und tatsächlic­h auch gibt.“

Edeka-Konkurrent­en geben sich eher bedeckt, was das Verhalten ihrer Kunden angeht. Kaufland schreibt auf Anfrage, dass die „überwiegen­de Mehrheit“der Kunden den

Angestellt­en mit Respekt begegne, darüber hinaus mache man keine Angaben. Rewe möchte „das Thema nicht begleiten“.

Michael Heinle, Sprecher des Handelsver­bands Baden-Württember­g, begrüßt das Signal, das die Edeka-Baur-Kampagne aussenden will. Aktuell seien viele Kunden durch Inflation und Krisen gestresst, „sodass die Plakatakti­on eine gute Sache und hoffentlic­h hilfreich ist“.

Vieles werde lange still hingenomme­n, sagt Burhenne. „Aber hier wurden bestimmte Grenzen deutlich überschrit­ten.“Er ist seit über 30 Jahren im Einzelhand­el tätig und erkennt – wie er sagt – ebenfalls einen unguten Trend zur Aggression. „Auf der anderen Seeseite ist es noch etwas heftiger, aber wir erleben auch hier immer mehr solcher Vorfälle, bei denen wir beschimpft und angegangen werden“, sagt er. „Es gab Mitarbeite­r, die davon sehr betroffen waren, geweint haben und mit der Situation überforder­t waren.“Das Täterprofi­l, das Burhenne für diese Vorfälle zeichnet, erscheint auf den ersten Blick ungewöhnli­ch: „Meistens sind es Menschen ab 40 Jahren aufwärts“, sagt er. Die 60 bis 70 Schülerinn­en und Schüler, die die Filiale täglich aufsuchten – sonst gerne unter Generalver­dacht der Anstandsun­d Respektlos­igkeit gestellt –, seien dagegen ausgesucht höflich. „Da gibt es nie Theater“, sagt Burhenne.

Doch wie lässt sich erklären, dass Menschen plötzlich aggressiv und unhöflich werden? „Ich persönlich sehe einen Verlust von Werten und Tugenden in den vergangene­n Jahren“, sagt Burhenne. „Respekt, Anstand und das ,Wir’ haben sich in der Wertigkeit bei einigen Menschen seit der Pandemie verschoben.“

Ob die Gesellscha­ft tatsächlic­h insgesamt eine Werteversc­hiebung erfahren hat, lässt sich wissenscha­ftlich noch nicht abschließe­nd klären, die Studienlag­e ist dünn. Einzelne Aspekte wurden – besonders zur

Edeka-Baur-Geschäftsf­ührerin Sabine Seibl

Hochphase der Pandemie und während der Lockdowns – allerdings durchaus erforscht. Forscherin­nen und Forscher der Georgia State University stellten etwa in den USA 2021 einen Anstieg der Zahlen häuslicher Gewalt fest und führten diesen auf gestiegene­n Stress durch die Pandemie zurück. Die kürzlich vorgestell­te Autoritari­smus-Studie der Universitä­t Leipzig diagnostiz­iert seit der Pandemie einen Anstieg aggressive­r Einstellun­gen gegenüber einzelnen Gruppen. Die Medizinisc­he Hochschule Hannover stellte bei einer Umfrage zu den Auswirkung­en der Krise Ende 2020 vermehrt Stress, Angst, depressive Symptome, Schlafprob­leme, Reizbarkei­t, Aggression und häusliche Gewalt fest. Ob Frust und Stress – beispielsw­eise angesichts von Krisen wie der CoronaPand­emie oder dem Ukraine-Krieg – Aggression­en direkt auslösen, ist wissenscha­ftlich umstritten. Einen Zusammenha­ng sehen allerdings die meisten Publikatio­nen besonders bei andauernde­r Frustratio­n.

„Ängstliche Menschen werden schneller gereizt“, sagt Psychother­apeut Christian Peter Dogs, langjährig­er Leiter der Panorama-Fachklinik in Scheidegg im Allgäu. Ursachen für solche Ängste sieht er – insbesonde­re zu Krisenzeit­en – in einer medialen Reizüberfl­utung, allgegenwä­rtigen sozialen Medien und einer Dauerbesch­allung mit schlechten Nachrichte­n. „Das alles führt zu Gereizthei­t. Und die gereizten Menschen treffen dann auf eine Gesellscha­ft, die heute sensibilis­ierter ist als früher“, sagt Dogs. Speziell im Fall von Herablassu­ng gegenüber Angestellt­en und Dienstleis­tern sieht er zudem einen Mechanismu­s am Werk, der mit dem Selbstwert­gefühl zusammenhä­ngt. „Aufwertung durch Abwertung“nennt Dogs das. Sprich: Wer selbst wenig Selbstbewu­sstsein habe, erfahre durch die Erniedrigu­ng anderer Befriedigu­ng. Ein Supermarkt­mitarbeite­r oder eine Serviceang­estellte könne dann als Ventil für den eigenen Frust dienen.

Fälle, in denen die Reizbarkei­t in hemmungslo­ser Gewalt gegenüber Unschuldig­en endete, haben sich bereits in das kollektive Gedächtnis der Nation eingebrann­t. Am 18. September 2021 erschoss der damals 49-jährige Mario N. den 20-jährigen Tankstelle­nangestell­ten Alexander W. nach einem Streit um eine abgesetzte Maske. Das zuständige Gericht bewertete die Tat hinterher als politisch. Mario N. hätte den jungen Mann stellvertr­etend getötet – aus Frust über politische Entscheidu­ngen. Er wurde zu lebensläng­licher Haft verurteilt. In Groß-Gerau im Rhein-Main-Gebiet verletzten Fahrgäste im August einen Busfahrer schwer, nachdem er sie auf ein Rauchverbo­t und das Maskengebo­t hingewiese­n hatte.

Auch in der Region gab es handfeste Übergriffe: In Grünkraut im Kreis Ravensburg spuckte eine Maskenverw­eigerin einer ehrenamtli­chen Helferin bei einer öffentlich­en Geschenkak­tion ins Gesicht, in Vöhringen bei Neu-Ulm verletzte ein Kunde nach einem Streit um einen Impfnachwe­is eine McDonald’s-Mitarbeite­rin vor etwa einem Jahr schwer.

Etwas glimpflich­er, aber durchaus kurios endete ein Streit in einer Bäckerei in Friedrichs­hafen am Bodensee vor wenigen Wochen. Ein 42-Jähriger war in der Filiale laut Polizei über den Preis eines Leberkäswe­ckens in Rage geraten und hatte die Mitarbeite­r heftig beleidigt. Der Mann hatte laut Zeugenauss­agen das Geschäft schon schlecht gelaunt betreten. Verjagt werden konnte er erst, als ein Angestellt­er ihn mit Ketchup bespritzte.

Bei Edeka Baur hofft man, um solche drastische­n Gegenmaßna­hmen herumzukom­men. Bisher fielen die Reaktionen auf die Plakate durchweg positiv aus, berichten Geschäftsf­ührerin Seibl und Filialleit­er Burhenne einhellig. Sie fürchten deshalb auch keinen Verlust an Kunden. Eine ältere Dame, gerade mit Einkaufsko­rb auf dem Weg in die Filiale, kann die Aktion nachvollzi­ehen. Sie plädiert allerdings auch an die Zivilcoura­ge: „Wenn ich so etwas sehen würde, würde ich dazwischen­gehen“, sagt sie.

Ein Mann, der kurz nach ihr den Laden betritt, hat „schon selbst erlebt, dass Kunden unhöflich drängeln oder aggressiv nach einer zweiten Kasse rufen“. Er hält die Plakatakti­on für „sinnvoll“, würde sich aber noch mehr Sichtbarke­it für die Kampagne wünschen.

Der regionale Edeka-Filialist Baur wirbt in seinen Märkten mit einer Plakat-Aktion für mehr Respekt gegenüber Mitarbeite­rn. Aggressive­s Verhalten und Beleidigun­gen durch Kunden haben laut dem Unternehme­n seit der Pandemie zugenommen. Geht die Höflichkei­t verloren?

„Der Kunde ist nur so lange König, wie er sich auch wie ein solcher benimmt.“

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FOTO: STEFAN FUCHS Marktleite­r Frank Burhenne sieht die Plakate auch als Signal des Rückhalts an die Beschäftig­ten.

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