Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Respektlos im Einkaufscenter
SALEM - Wenn der Einkaufswagen zum Rammbock wird und die Verkäuferin an der Bäckertheke zum Ziel von Spott und Beleidigungen, läuft etwas gründlich falsch. Das zumindest ist die Haltung bei Edeka Baur im Bodenseekreis und in Konstanz. Weil sich seit der Pandemie rüpelhaftes Verhalten von Kunden häufe, hat das Unternehmen jetzt eine Plakataktion gestartet.
Statt knalliger Werbung für reduzierten Aufschnitt oder frisches Gemüse erwartet die Kunden in der Edeka-Baur-Filiale in Salem auf dem Aufsteller im Eingangsbereich ein mahnender Hinweis: „In jeder Arbeitskleidung steckt ein Mensch“. Mit Plakaten wirbt das Unternehmen in 13 Filialen für mehr Respekt für die Mitarbeiter. „Wir möchten es daher nicht länger akzeptieren, dass unsere Mitarbeiter:innen von einer Minderheit unserer Kunden nicht gut behandelt werden“, heißt es weiter auf den Postern.
Ein ungewöhnlicher Schritt, aber ein „notwendiger“. Dessen ist sich Sabine Seibl, Geschäftsführerin für die Filialen am See, gewiss. „Wir müssen zunehmend feststellen, dass es Kunden gibt, die nicht gut mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und anderen Kundinnen und Kunden umgehen“, sagt sie. Manche Menschen seien – besonders seit der Corona-Pandemie – sehr schnell zu Streit bereit. „Ich bemerke in der Gesellschaft allgemein eine latente Gereiztheit“, sagt Seibl.
Die Liste an Vorfällen, die ihre Angestellten ihr melden, ist lang: Sie reicht von Beschimpfungen bis zu angedrohten Schlägen. Fehle eine bestimmte Ware, gebe es Kunden, die die Angestellten als „unfähig“beschimpften, andere hätten sogar das Lager gestürmt, berichtet Seibl. Dabei gebe es für Lücken in den Regalen gute Gründe: Lieferengpässe durch den Ukraine-Krieg, Ausfälle durch Krankheiten oder schlicht Personalmangel. Doch nicht nur fehlende Artikel seien Auslöser für Aggressionen: In einer Konstanzer Filiale habe ein älteres Ehepaar einen Mitarbeiter mit voller Absicht mit dem Einkaufswagen angefahren – mit den Worten „Der Kunde hat Vorrang“.
„Der Kunde ist nur so lange König, wie er sich auch wie ein solcher benimmt“, sagt Seibl dazu. Sie hat den Eindruck, „dass mancher zum Einkaufen kommt und regelrecht auf der Suche nach einem Ventil für Frust ist“. Die Geschäftsführerin betont, dass es sich bei den Stänkerern nur um eine kleine Minderheit des Kundenstamms handle, „die allermeisten sind verständnisvoll und höflich. Manche schreiten auch ein, wenn sie sehen, dass jemand beschimpft wird.“Doch auch die Minderheit sorge für unnötigen Stress.
Besonders zu den Hochphasen der Pandemie war die Polizei laut Seibl aufgrund häufiger Streitigkeiten Stammgast in manchen Filialen, teils beinahe wöchentlich. „Meistens ging es dabei um die Maskenpflicht“, sagt Seibl. Konkrete Zahlen dazu kann das zuständige Polizeipräsidium Ravensburg auf Anfrage nicht bieten – zu vielfältig seien die Anlässe für Einsätze und zu unübersichtlich die Zahlen, heißt es aus dem Präsidium. Schon 2021 berichtete allerdings Polizeisprecher Oliver Weißflog
von wöchentlichen Einsätzen aufgrund von Fällen mit Konflikten rund um die Maskenpflicht. Diese Streits kämen jetzt zwar nicht mehr vor, sagt Seibl. Die grundsätzliche Häufung von Aggressionen sei aber noch nicht passé.
Als Reaktion hat sich das Unternehmen die Plakataktion ausgedacht. Sie soll einerseits Kunden an Höflichkeit und Anstand erinnern, andererseits auch als Signal nach innen dienen: „Wir stehen hinter unseren Mitarbeitern“, sagt Seibl. Die verbalen und nonverbalen Angriffe „machen auch etwas mit der Seele“, sagt sie. Deshalb sei es umso wichtiger, „ein Zeichen zu setzen“und Rückhalt zu bieten.
Ein Zeichen, das durchaus ankommt, findet Frank Burhenne, Leiter der Filiale in Salem. „Es ist extrem wichtig, dass sich der Arbeitgeber öffentlich auf unsere Seite stellt. Das tut all unseren Mitarbeitern gut“, sagt er. „In dieser Berufsgruppe ist das neu, dass es solchen Rückhalt geben muss und tatsächlich auch gibt.“
Edeka-Konkurrenten geben sich eher bedeckt, was das Verhalten ihrer Kunden angeht. Kaufland schreibt auf Anfrage, dass die „überwiegende Mehrheit“der Kunden den
Angestellten mit Respekt begegne, darüber hinaus mache man keine Angaben. Rewe möchte „das Thema nicht begleiten“.
Michael Heinle, Sprecher des Handelsverbands Baden-Württemberg, begrüßt das Signal, das die Edeka-Baur-Kampagne aussenden will. Aktuell seien viele Kunden durch Inflation und Krisen gestresst, „sodass die Plakataktion eine gute Sache und hoffentlich hilfreich ist“.
Vieles werde lange still hingenommen, sagt Burhenne. „Aber hier wurden bestimmte Grenzen deutlich überschritten.“Er ist seit über 30 Jahren im Einzelhandel tätig und erkennt – wie er sagt – ebenfalls einen unguten Trend zur Aggression. „Auf der anderen Seeseite ist es noch etwas heftiger, aber wir erleben auch hier immer mehr solcher Vorfälle, bei denen wir beschimpft und angegangen werden“, sagt er. „Es gab Mitarbeiter, die davon sehr betroffen waren, geweint haben und mit der Situation überfordert waren.“Das Täterprofil, das Burhenne für diese Vorfälle zeichnet, erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich: „Meistens sind es Menschen ab 40 Jahren aufwärts“, sagt er. Die 60 bis 70 Schülerinnen und Schüler, die die Filiale täglich aufsuchten – sonst gerne unter Generalverdacht der Anstandsund Respektlosigkeit gestellt –, seien dagegen ausgesucht höflich. „Da gibt es nie Theater“, sagt Burhenne.
Doch wie lässt sich erklären, dass Menschen plötzlich aggressiv und unhöflich werden? „Ich persönlich sehe einen Verlust von Werten und Tugenden in den vergangenen Jahren“, sagt Burhenne. „Respekt, Anstand und das ,Wir’ haben sich in der Wertigkeit bei einigen Menschen seit der Pandemie verschoben.“
Ob die Gesellschaft tatsächlich insgesamt eine Werteverschiebung erfahren hat, lässt sich wissenschaftlich noch nicht abschließend klären, die Studienlage ist dünn. Einzelne Aspekte wurden – besonders zur
Edeka-Baur-Geschäftsführerin Sabine Seibl
Hochphase der Pandemie und während der Lockdowns – allerdings durchaus erforscht. Forscherinnen und Forscher der Georgia State University stellten etwa in den USA 2021 einen Anstieg der Zahlen häuslicher Gewalt fest und führten diesen auf gestiegenen Stress durch die Pandemie zurück. Die kürzlich vorgestellte Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig diagnostiziert seit der Pandemie einen Anstieg aggressiver Einstellungen gegenüber einzelnen Gruppen. Die Medizinische Hochschule Hannover stellte bei einer Umfrage zu den Auswirkungen der Krise Ende 2020 vermehrt Stress, Angst, depressive Symptome, Schlafprobleme, Reizbarkeit, Aggression und häusliche Gewalt fest. Ob Frust und Stress – beispielsweise angesichts von Krisen wie der CoronaPandemie oder dem Ukraine-Krieg – Aggressionen direkt auslösen, ist wissenschaftlich umstritten. Einen Zusammenhang sehen allerdings die meisten Publikationen besonders bei andauernder Frustration.
„Ängstliche Menschen werden schneller gereizt“, sagt Psychotherapeut Christian Peter Dogs, langjähriger Leiter der Panorama-Fachklinik in Scheidegg im Allgäu. Ursachen für solche Ängste sieht er – insbesondere zu Krisenzeiten – in einer medialen Reizüberflutung, allgegenwärtigen sozialen Medien und einer Dauerbeschallung mit schlechten Nachrichten. „Das alles führt zu Gereiztheit. Und die gereizten Menschen treffen dann auf eine Gesellschaft, die heute sensibilisierter ist als früher“, sagt Dogs. Speziell im Fall von Herablassung gegenüber Angestellten und Dienstleistern sieht er zudem einen Mechanismus am Werk, der mit dem Selbstwertgefühl zusammenhängt. „Aufwertung durch Abwertung“nennt Dogs das. Sprich: Wer selbst wenig Selbstbewusstsein habe, erfahre durch die Erniedrigung anderer Befriedigung. Ein Supermarktmitarbeiter oder eine Serviceangestellte könne dann als Ventil für den eigenen Frust dienen.
Fälle, in denen die Reizbarkeit in hemmungsloser Gewalt gegenüber Unschuldigen endete, haben sich bereits in das kollektive Gedächtnis der Nation eingebrannt. Am 18. September 2021 erschoss der damals 49-jährige Mario N. den 20-jährigen Tankstellenangestellten Alexander W. nach einem Streit um eine abgesetzte Maske. Das zuständige Gericht bewertete die Tat hinterher als politisch. Mario N. hätte den jungen Mann stellvertretend getötet – aus Frust über politische Entscheidungen. Er wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt. In Groß-Gerau im Rhein-Main-Gebiet verletzten Fahrgäste im August einen Busfahrer schwer, nachdem er sie auf ein Rauchverbot und das Maskengebot hingewiesen hatte.
Auch in der Region gab es handfeste Übergriffe: In Grünkraut im Kreis Ravensburg spuckte eine Maskenverweigerin einer ehrenamtlichen Helferin bei einer öffentlichen Geschenkaktion ins Gesicht, in Vöhringen bei Neu-Ulm verletzte ein Kunde nach einem Streit um einen Impfnachweis eine McDonald’s-Mitarbeiterin vor etwa einem Jahr schwer.
Etwas glimpflicher, aber durchaus kurios endete ein Streit in einer Bäckerei in Friedrichshafen am Bodensee vor wenigen Wochen. Ein 42-Jähriger war in der Filiale laut Polizei über den Preis eines Leberkäsweckens in Rage geraten und hatte die Mitarbeiter heftig beleidigt. Der Mann hatte laut Zeugenaussagen das Geschäft schon schlecht gelaunt betreten. Verjagt werden konnte er erst, als ein Angestellter ihn mit Ketchup bespritzte.
Bei Edeka Baur hofft man, um solche drastischen Gegenmaßnahmen herumzukommen. Bisher fielen die Reaktionen auf die Plakate durchweg positiv aus, berichten Geschäftsführerin Seibl und Filialleiter Burhenne einhellig. Sie fürchten deshalb auch keinen Verlust an Kunden. Eine ältere Dame, gerade mit Einkaufskorb auf dem Weg in die Filiale, kann die Aktion nachvollziehen. Sie plädiert allerdings auch an die Zivilcourage: „Wenn ich so etwas sehen würde, würde ich dazwischengehen“, sagt sie.
Ein Mann, der kurz nach ihr den Laden betritt, hat „schon selbst erlebt, dass Kunden unhöflich drängeln oder aggressiv nach einer zweiten Kasse rufen“. Er hält die Plakataktion für „sinnvoll“, würde sich aber noch mehr Sichtbarkeit für die Kampagne wünschen.
Der regionale Edeka-Filialist Baur wirbt in seinen Märkten mit einer Plakat-Aktion für mehr Respekt gegenüber Mitarbeitern. Aggressives Verhalten und Beleidigungen durch Kunden haben laut dem Unternehmen seit der Pandemie zugenommen. Geht die Höflichkeit verloren?
„Der Kunde ist nur so lange König, wie er sich auch wie ein solcher benimmt.“