Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Wohnungsnot wächst
Bezahlbarer Wohnraum wird in Deutschland immer knapper – Das sind die Gründe
BERLIN - Für Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) muss der Rückblick auf das Jahr 2022 bitter sein. Mit großen Versprechungen, die Wohnungsmisere in Deutschland zu lindern, war die Ampel-Koalition angetreten. Erreicht hat sie in ihrem ersten Jahr sehr viel weniger als geplant. Es wurden nach Schätzungen des Pestel-Instituts in Hannover sogar weniger Wohnungen als 2021 gebaut. Was das für Mieter bedeutet: Hier die wichtigsten Fragen und Antworten.
Warum hat sich die Wohnungsnot weiter verschärft?
Wie bei so vielen Missständen in dieser Zeit spielt auch bei diesem Problem der russische Angriffskrieg auf die Ukraine eine Rolle. Und zwar in mehrfacher Hinsicht: Einerseits haben sich dadurch Baumaterialien extrem verteuert, und es kam zu Lieferengpässen. Andererseits hat der Krieg in der Ukraine innerhalb weniger Monate zur größten Fluchtbewegung nach Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geführt. Bis zum September 2022 sind 1,35 Millionen Menschen nach Deutschland zugewandert, für das ganze Jahr rechnet das Pestel-Institut mit 1,5 Millionen Zuwanderern.
Warum schlägt das Bündnis „Soziales Wohnen“Alarm?
Die Mitglieder des Bündnisses – Deutscher Mieterverein, Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie, Industriegewerkschaft Bauen-AgrarUmwelt (IG Bau) und Bauverbände – befürchten einen „Kollaps auf dem sozialen Wohnungsmarkt“, sollte es der Bundesregierung nicht gelingen, dem sozialen Wohnungsbau in Deutschland einen deutlichen Schub zu geben. Ihre Sorge stützt sich auf Zahlen des Pestel-Instituts und des Bauforschungsinstituts Arge in Kiel. 100.000 Sozialwohnungen sollten, so die Pläne der Bundesregierung, pro Jahr entstehen. 2021 waren es allerdings nur etwa 20.000 öffentlich geförderte Wohnungen. Das bedeutet: In der verbleibenden Regierungszeit müssten 380.000 Sozialwohnungen gebaut werden, um den Bedarf an Wohnraum für bedürftige Menschen zu decken. In Anbetracht der Rahmenbedingungen auf dem Bau ist dieses Ziel wenig realistisch.
Was könnte die Regierung tun, um dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum entgegenzuwirken?
Etwas einfach formuliert: Geld in die
Hand nehmen. Das Verbändebündnis fordert ein Sondervermögen von 50 Milliarden Euro bis 2025, um den Bau von Sozialwohnungen voranzubringen. Das ist sehr viel mehr als die 14,5 Milliarden Euro, mit denen der Bund bislang den sozialen Wohnungsbau fördern will. Die Forderungen an die Bundesregierung greifen allerdings ein Stück weit zu kurz. Denn wenn die Länder nicht mitziehen, bringen die Milliarden aus Berlin nicht den gewünschten Effekt. Hamburg ist beispielsweise laut Pestel-Institut ein „Musterland des sozialen Wohnungsbaus“. Im Saarland hingegen liege der Verdacht nahe, dass mit den Fördergeldern der Haushalt saniert wurde, anstatt günstigen Wohnraum zu schaffen.
Wie ist es um den sozialen Wohnungsbau im Süden der Republik bestellt?
Baden-Württemberg und Bayern liegen laut Pestel-Institut auf Platz 13 beziehungsweise acht mit Blick auf den Bestand an Sozialwohnungen pro 1000 Mieterhaushalte. Beide Länder treiben jedoch den Bau bezahlbaren Wohnraums entschiedener voran als andere Länder. Das baden-württembergische Wohnbauministerium kündigte am Donnerstag laut Deutscher Presse-Agentur an, an Bauherren für jede fertiggestellte Wohneinheit eine Prämie von 6000 Euro zu zahlen, wenn bei dem Bauvorhaben mindestens 30 Prozent Sozialwohnungen vorgesehen seien. Nach Angaben eines Sprechers des Bauministeriums ist Baden-Württemberg das erste Land, das eine solche Prämie zahlen will.
Wie wirkt sich der Klimaschutz auf bezahlbaren Wohnraum aus?
Wenig überraschend verteuern die Anforderung an die Bauherrn, energieeffizient zu bauen, die Baukosten. „Wir brauchen aber einen Neubau, der bezahlbar ist“, sagte Kai Warnecke, Präsident des Eigentümerverbands Haus & Grund, am Donnerstag in Berlin. Auch Dietmar Walberg, Leiter des Arge-Instituts, fordert ein Nachdenken über die Energieeffizienz. „Wir müssen über Standards nachdenken, die wir uns noch leisten können.“Derzeit müsste der Staat beim Neubau einer 60 Quadratmeter großen Sozialwohnung 126 000 Euro zuschießen, bei 100 000 Wohnungen pro Jahr also 12,6 Milliarden Euro. Bei höheren Energieeffizienzstandards (KFW-Effizienzhaus 40) seien sogar bis zu 14,9 Milliarden Euro pro Jahr erforderlich.
Warum trifft der Mangel an Wohnraum die ärmeren Teile der Bevölkerung besonders?
Die Mietkosten sind laut Pestel-Institut für Bezieher niedriger Einkommen um 30 Prozent gestiegen, da ihre Einnahmen mit den Preisen nicht Schritt hielten. Dies gilt laut Haus & Grund allerdings nicht für den Durchschnitt der Bevölkerung. Nach einer Studie, die der Eigentümerverband am Donnerstag vorgestellt hat, sind die Löhne in Deutschland zwischen 2015 und 2021 um 14,2 Prozent gestiegen, die Bestandsmieten dagegen um 7,3 und die Neuvertragsmieten um 7,7 Prozent. Damit sei für einen Großteil der privaten Haushalte die Bezahlbarkeit des Mietens gesichert. Für Bedürftige hat sich die Lage in den vergangenen Jahrzehnten allein aufgrund des geringeren Angebots an Sozialwohnungen verschlechtert. Ende der 1980er-Jahre gab es in Westdeutschland noch vier Millionen Sozialwohnungen, inzwischen sind es in ganz Deutschland rund 1,1 Millionen bei mehr als elf Millionen Haushalten mit Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein.