Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Auftakt mit Aal
Die Weihnachtslieder sind verklungen, die Raunächte überstanden, die Silvesterböller verhallt und die Dreikönige weitergezogen. Aber eines ist uns geblieben: das Wort Vorsatz. Es geistert wie immer nach dem Jahresauftakt durch die Hirnwindungen vieler Zeitgenossen. Mit Vorsatz meinen wir hier natürlich die löbliche Absicht, im neuen Jahr etwas zum Guten verändern zu wollen. Das Wort Vorsatz kann einem ja auch in einer ganz anderen Bedeutung begegnen – wie dieser Tage auf der Anleitung für unseren neuen Aschesauger. Da war die Düse gemeint, die man vorne auf den Schlauch setzt. Unter Vorsatz kann man zudem die finstere Absicht zum Begehen einer Straftat verstehen oder aber das Doppelblatt, das beim Büchermachen den Deckel mit dem eigentlichen Buchblock verbindet. Und was lernen wir daraus? Die Vielfalt unserer Sprache, die Fähigkeit zum Auffächern eines einzigen Wortstamms in die verschiedensten Bedeutungen, ist immer wieder beeindruckend.
Das fängt beim Wort Satz an. Zunächst einmal ist ein Satz eine aus mehreren Wörtern gebildete sprachliche Einheit, aber auch eine Lehrmeinung ist ein Satz – man denke an den Satz des Pythagoras. Unter Satz verstehen wir die Herstellung eines Textes, früher mittels Bleilettern, heute mittels Fototechnik. Satz ist der Rückstand im Glas oder in der Tasse, ob bei einem guten Wein oder einem schlechten Kaffee. Ein Banker berechnet bei den Zinsen einen niedrigen Satz, ein Komponist wird für einen einfallsreichen Satz seiner Sinfonie gepriesen, eine Hausfrau kauft einen Satz neue Schüsseln, ein Tennisspieler hadert mit einem verlorenen
Satz, und ein Jäger schwärmt davon, im Dickicht einen Satz junger Hasen im Nest entdeckt zu haben.
Und dann sind da eben noch – wie bei Vorsatz – die Ableitungen durch verschiedene Vorsilben. Ein Nebensatz ist ein untergeordneter Satz, und der Gegensatz erklärt sich eigentlich von selbst. Aussatz ist ein altes Wort für Lepra, weil die Kranken aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Unter Entsatz versteht man die Befreiung einer eingekesselten Truppe. Der Durchsatz ist die Stoffmenge, die in einer gewissen Zeit durch einen Webstuhl läuft, und als Umsatz gilt der Gesamtwert verkaufter Waren. Besatz kann zum einen ein aufgenähtes Teil bei einem Kleidungsstück bedeuten, zum anderen den Wildbestand im Wald. Tritt jemand an die Stelle einer ausgefallenen Arbeitskraft, so ist er Ersatz, und Ersatz wiederum verlangt jemand, dem man einen Schaden zugefügt hat.
Einen Aufsatz schreibt der Schüler in der Deutschstunde, aber auch der aufmontierte Teil bei einem Möbelstück ist ein Aufsatz, desgleichen das Prunkgeschirr inmitten einer Festtafel. Absatz hat gleich fünf Bedeutungen: Teil der Schuhsohle, Podest, Unterbrechung in einem Text, abgetrennte Passage, Verkauf von Waren sowie geologische Ablagerung. Und bei Ansatz fallen noch mehr Varianten an: Veranschlagung bei der Preisgestaltung, Grundstoff für einen Hauslikör, Umsetzung einer Rechenaufgabe, Lippenstellung beim Trompetenblasen, Anzeichen eines wachsenden Bauchumfangs … Aber da hören wir jetzt lieber auf.
Noch ein Nachsatz zum Thema Vorsatz.„Der Vorsatz ist wie ein Aal: leichter zu fassen als zu halten.“So befand vor etwas mehr als 300 Jahren der ebenso weise wie wortgewaltige Augustinerbarfüßermönch Abraham a Sancta Clara aus Kreenheinstetten bei Meßkirch. Nehmen wir es als Lehrsatz!
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Nichtserielles Erzählen ist bei Filmen und Serien schon länger in Mode: Zeitstränge laufen parallel ab oder es wird in der Handlung munter vor- und zurückgesprungen. Vor allem Quentin Tarantino hat mit Filmen wie „Pulp Fiction“oder „Reservoir Dogs“wesentlich zur Beliebtheit dieses Ansatzes beigetragen. Christopher Nolans großartiger Thriller „Memento“erzählt seine Geschichte gar parallel vorwärts und rückwärts. Als er seinerzeit auf DVD erschien, bot diese als besondere beliebte Option an, die Szenen in chronologischer Reihenfolge abzuspielen.
Das ist gut 20 Jahre her und wir sind mittlerweile im Streamingzeitalter angekommen. Der zuletzt etwas strauchelnde Anbieter Netflix ist stets daran interessiert, dass seine Produktionen in aller Munde sind und präsentiert daher pünktlich zum Jahresanfang eine originelle Idee: Die acht Folgen der Serie „Kaleidoscope“lassen sich prinzipiell in beliebiger Reihenfolge abspielen, woraus sich jeweils ein eigenständiges Erleben der Geschichte zusammenfügt.
Dies ergibt dann 40.320 mögliche Kombinationen der dem Titel entsprechend farbkodierten Episoden. Folgt man der Empfehlung von Netflix und hebt sich die Folge „Weiß“bis zum Finale auf, bleiben immer noch stattliche 5040 Möglichkeiten. Nach dem im kurzen Intro „Schwarz“, das nicht mitgezählt wird, das Prinzip erklärt wird, kann man also frei kombinieren, wie man sich dem Geschehen nähert.
Ähnlich wie etwa bei „Reservoir Dogs“steht im Mittelpunkt des Geschehens ein Raubüberfall, bei dem sehr unterschiedliche Charaktere mit jeweils eigenen Motivationen zusammenarbeiten und bei dem einiges schiefläuft. Zur Orientierung bietet Netflix jeweils eine Zeitangabe: „Weiß“ist der eigentliche Überfall, „Violett“spielt 24 Jahre vorher, „Rosa“sechs Monate danach und so weiter. Aufmerksamkeit ist mit diesem Prinzip natürlich garantiert und in den sozialen Medien wird schon eifrig über die ideale Reihenfolge diskutiert. Aber kann die Geschichte auch jenseits des Gimmicks der Inszenierung überzeugen?
Passend gewählt ist das im Englischen als „Heist“(Raub) bekannte Genre auf alle Fälle, denn in der Regel gibt es hier neben dem eigentlichen Einsatz ein näher beleuchtetes Vorher und Nachher, zudem wechselnde Allianzen, oft auch gegenseitigen Verrat und überraschende Wendungen. Allzu sehr weicht „Kaleidoscope“nicht von den Konventionen
– manchmal auch Klischees – des Genres ab, überzeugt dafür aber mit einer Reihe guter Darsteller. Im Mittelpunkt steht Giancarlo Espositio als Leo Pap, der Anführer und Organisator des spektakulären Raubvorhabens.
Esposito wurde vor allem durch seine eindringliche Darbietung in der bahnbrechenden Serie „Breaking Bad“bekannt, zuletzt aber etwas arg berechenbar als glatt-bedrohlicher Bösewicht in Serien wie „The Mandalorian“oder „The Boys“besetzt. In „Kaleidoscope“kann er eine wesentlich größere Bandbreite an Emotionen und Charaktereigenschaften präsentieren, seine Figur hält nicht nur das Team, sondern auch die gesamte Erzählung zusammen. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer spannender Figuren: Die Spanierin Paz Vega überzeugt als knallharte
Anwältin und Waffenexpertin Ava, Niousha Noor als FBI-Agentin und Tati Gabrielle als Sicherheitsexpertin Hannah. Diese arbeitet für Roger Salas (Rufus Sewell), Eigentümer einer Sicherheitsfirma, die sich dafür rühmt, ihren Klienten einen unknackbaren Safe in einer hochkomplexen Bunkeranlage zu bieten. Und natürlich ist es genau der Inhalt dieses Tresors, auf den es die Räuberbande abgesehen hat …
„Kaleidoscope“ist nicht das erste interaktive Angebot von Netflix. Vor vier Jahren konnten die Zuschauer etwa bei der „Black Mirror“-Episode „Bandersnatch“an zahlreichen Punkten festlegen, wie die Hauptfigur handelt, was sich dann auf das weitere Geschehen auswirkte. So viel Einfluss hat der Zuschauer dieses Mal nicht, aber es ist doch faszinierend zu erleben, was für eine Bedeutung die Chronologie auf die Wahrnehmung der Geschichte und ihrer Charaktere hat. Vor allem wer das Genre mag und sich nicht daran stört, dass es teils deutlich blutiger als etwa bei „Ocean’s Eleven“zugeht, kann hier für einige spannende Streamingstunden in die Farben des Kaleidoskops eintauchen.
Kaleidoscope, alle Folgen erhältlich auf Netflix. Unser Tipp für eine stimmige Reihenfolge, die mit der Zusammenstellung des Teams beginnt: Gelb-Grün-Violett-OrangeRot-Blau-Rosa/Pink-Weiß.