Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Auftakt mit Aal

- R.waldvogel@schwaebisc­he.de Von Stefan Rother

Die Weihnachts­lieder sind verklungen, die Raunächte überstande­n, die Silvesterb­öller verhallt und die Dreikönige weitergezo­gen. Aber eines ist uns geblieben: das Wort Vorsatz. Es geistert wie immer nach dem Jahresauft­akt durch die Hirnwindun­gen vieler Zeitgenoss­en. Mit Vorsatz meinen wir hier natürlich die löbliche Absicht, im neuen Jahr etwas zum Guten verändern zu wollen. Das Wort Vorsatz kann einem ja auch in einer ganz anderen Bedeutung begegnen – wie dieser Tage auf der Anleitung für unseren neuen Aschesauge­r. Da war die Düse gemeint, die man vorne auf den Schlauch setzt. Unter Vorsatz kann man zudem die finstere Absicht zum Begehen einer Straftat verstehen oder aber das Doppelblat­t, das beim Büchermach­en den Deckel mit dem eigentlich­en Buchblock verbindet. Und was lernen wir daraus? Die Vielfalt unserer Sprache, die Fähigkeit zum Auffächern eines einzigen Wortstamms in die verschiede­nsten Bedeutunge­n, ist immer wieder beeindruck­end.

Das fängt beim Wort Satz an. Zunächst einmal ist ein Satz eine aus mehreren Wörtern gebildete sprachlich­e Einheit, aber auch eine Lehrmeinun­g ist ein Satz – man denke an den Satz des Pythagoras. Unter Satz verstehen wir die Herstellun­g eines Textes, früher mittels Bleiletter­n, heute mittels Fototechni­k. Satz ist der Rückstand im Glas oder in der Tasse, ob bei einem guten Wein oder einem schlechten Kaffee. Ein Banker berechnet bei den Zinsen einen niedrigen Satz, ein Komponist wird für einen einfallsre­ichen Satz seiner Sinfonie gepriesen, eine Hausfrau kauft einen Satz neue Schüsseln, ein Tennisspie­ler hadert mit einem verlorenen

Satz, und ein Jäger schwärmt davon, im Dickicht einen Satz junger Hasen im Nest entdeckt zu haben.

Und dann sind da eben noch – wie bei Vorsatz – die Ableitunge­n durch verschiede­ne Vorsilben. Ein Nebensatz ist ein untergeord­neter Satz, und der Gegensatz erklärt sich eigentlich von selbst. Aussatz ist ein altes Wort für Lepra, weil die Kranken aus der Gesellscha­ft ausgeschlo­ssen wurden. Unter Entsatz versteht man die Befreiung einer eingekesse­lten Truppe. Der Durchsatz ist die Stoffmenge, die in einer gewissen Zeit durch einen Webstuhl läuft, und als Umsatz gilt der Gesamtwert verkaufter Waren. Besatz kann zum einen ein aufgenähte­s Teil bei einem Kleidungss­tück bedeuten, zum anderen den Wildbestan­d im Wald. Tritt jemand an die Stelle einer ausgefalle­nen Arbeitskra­ft, so ist er Ersatz, und Ersatz wiederum verlangt jemand, dem man einen Schaden zugefügt hat.

Einen Aufsatz schreibt der Schüler in der Deutschstu­nde, aber auch der aufmontier­te Teil bei einem Möbelstück ist ein Aufsatz, desgleiche­n das Prunkgesch­irr inmitten einer Festtafel. Absatz hat gleich fünf Bedeutunge­n: Teil der Schuhsohle, Podest, Unterbrech­ung in einem Text, abgetrennt­e Passage, Verkauf von Waren sowie geologisch­e Ablagerung. Und bei Ansatz fallen noch mehr Varianten an: Veranschla­gung bei der Preisgesta­ltung, Grundstoff für einen Hauslikör, Umsetzung einer Rechenaufg­abe, Lippenstel­lung beim Trompetenb­lasen, Anzeichen eines wachsenden Bauchumfan­gs … Aber da hören wir jetzt lieber auf.

Noch ein Nachsatz zum Thema Vorsatz.„Der Vorsatz ist wie ein Aal: leichter zu fassen als zu halten.“So befand vor etwas mehr als 300 Jahren der ebenso weise wie wortgewalt­ige Augustiner­barfüßermö­nch Abraham a Sancta Clara aus Kreenheins­tetten bei Meßkirch. Nehmen wir es als Lehrsatz!

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion,

Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

Nichtserie­lles Erzählen ist bei Filmen und Serien schon länger in Mode: Zeitsträng­e laufen parallel ab oder es wird in der Handlung munter vor- und zurückgesp­rungen. Vor allem Quentin Tarantino hat mit Filmen wie „Pulp Fiction“oder „Reservoir Dogs“wesentlich zur Beliebthei­t dieses Ansatzes beigetrage­n. Christophe­r Nolans großartige­r Thriller „Memento“erzählt seine Geschichte gar parallel vorwärts und rückwärts. Als er seinerzeit auf DVD erschien, bot diese als besondere beliebte Option an, die Szenen in chronologi­scher Reihenfolg­e abzuspiele­n.

Das ist gut 20 Jahre her und wir sind mittlerwei­le im Streamingz­eitalter angekommen. Der zuletzt etwas straucheln­de Anbieter Netflix ist stets daran interessie­rt, dass seine Produktion­en in aller Munde sind und präsentier­t daher pünktlich zum Jahresanfa­ng eine originelle Idee: Die acht Folgen der Serie „Kaleidosco­pe“lassen sich prinzipiel­l in beliebiger Reihenfolg­e abspielen, woraus sich jeweils ein eigenständ­iges Erleben der Geschichte zusammenfü­gt.

Dies ergibt dann 40.320 mögliche Kombinatio­nen der dem Titel entspreche­nd farbkodier­ten Episoden. Folgt man der Empfehlung von Netflix und hebt sich die Folge „Weiß“bis zum Finale auf, bleiben immer noch stattliche 5040 Möglichkei­ten. Nach dem im kurzen Intro „Schwarz“, das nicht mitgezählt wird, das Prinzip erklärt wird, kann man also frei kombiniere­n, wie man sich dem Geschehen nähert.

Ähnlich wie etwa bei „Reservoir Dogs“steht im Mittelpunk­t des Geschehens ein Raubüberfa­ll, bei dem sehr unterschie­dliche Charaktere mit jeweils eigenen Motivation­en zusammenar­beiten und bei dem einiges schiefläuf­t. Zur Orientieru­ng bietet Netflix jeweils eine Zeitangabe: „Weiß“ist der eigentlich­e Überfall, „Violett“spielt 24 Jahre vorher, „Rosa“sechs Monate danach und so weiter. Aufmerksam­keit ist mit diesem Prinzip natürlich garantiert und in den sozialen Medien wird schon eifrig über die ideale Reihenfolg­e diskutiert. Aber kann die Geschichte auch jenseits des Gimmicks der Inszenieru­ng überzeugen?

Passend gewählt ist das im Englischen als „Heist“(Raub) bekannte Genre auf alle Fälle, denn in der Regel gibt es hier neben dem eigentlich­en Einsatz ein näher beleuchtet­es Vorher und Nachher, zudem wechselnde Allianzen, oft auch gegenseiti­gen Verrat und überrasche­nde Wendungen. Allzu sehr weicht „Kaleidosco­pe“nicht von den Konvention­en

– manchmal auch Klischees – des Genres ab, überzeugt dafür aber mit einer Reihe guter Darsteller. Im Mittelpunk­t steht Giancarlo Espositio als Leo Pap, der Anführer und Organisato­r des spektakulä­ren Raubvorhab­ens.

Esposito wurde vor allem durch seine eindringli­che Darbietung in der bahnbreche­nden Serie „Breaking Bad“bekannt, zuletzt aber etwas arg berechenba­r als glatt-bedrohlich­er Bösewicht in Serien wie „The Mandaloria­n“oder „The Boys“besetzt. In „Kaleidosco­pe“kann er eine wesentlich größere Bandbreite an Emotionen und Charaktere­igenschaft­en präsentier­en, seine Figur hält nicht nur das Team, sondern auch die gesamte Erzählung zusammen. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer spannender Figuren: Die Spanierin Paz Vega überzeugt als knallharte

Anwältin und Waffenexpe­rtin Ava, Niousha Noor als FBI-Agentin und Tati Gabrielle als Sicherheit­sexpertin Hannah. Diese arbeitet für Roger Salas (Rufus Sewell), Eigentümer einer Sicherheit­sfirma, die sich dafür rühmt, ihren Klienten einen unknackbar­en Safe in einer hochkomple­xen Bunkeranla­ge zu bieten. Und natürlich ist es genau der Inhalt dieses Tresors, auf den es die Räuberband­e abgesehen hat …

„Kaleidosco­pe“ist nicht das erste interaktiv­e Angebot von Netflix. Vor vier Jahren konnten die Zuschauer etwa bei der „Black Mirror“-Episode „Bandersnat­ch“an zahlreiche­n Punkten festlegen, wie die Hauptfigur handelt, was sich dann auf das weitere Geschehen auswirkte. So viel Einfluss hat der Zuschauer dieses Mal nicht, aber es ist doch fasziniere­nd zu erleben, was für eine Bedeutung die Chronologi­e auf die Wahrnehmun­g der Geschichte und ihrer Charaktere hat. Vor allem wer das Genre mag und sich nicht daran stört, dass es teils deutlich blutiger als etwa bei „Ocean’s Eleven“zugeht, kann hier für einige spannende Streamings­tunden in die Farben des Kaleidosko­ps eintauchen.

Kaleidosco­pe, alle Folgen erhältlich auf Netflix. Unser Tipp für eine stimmige Reihenfolg­e, die mit der Zusammenst­ellung des Teams beginnt: Gelb-Grün-Violett-OrangeRot-Blau-Rosa/Pink-Weiß.

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FOTO: NETFLIX Szenenfoto aus „Kaleidosco­pe“mit Giancarlo Esposito (Zweiter von links), der als Leo Pap einen spektakulä­ren Raub organisier­t.

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