Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die große Schlacht um Lützerath

Kurz vor der Abbaggerun­g kommt es zum Showdown zwischen Klimaaktiv­isten und Staat

- Von Petra Albers, Jonas-Erik Schmidt und Christoph Driessen

ERKELENZ (dpa) - Es sind Bilder wie kurz vor einer mittelalte­rlichen Feldschlac­ht. In langen Reihen stehen sich die Gegner unter schwarzen Regenwolke­n gegenüber. Auf der einen Seite die überwiegen­d vermummten Demonstran­ten mit im Wind wehenden Fahnen und Transparen­ten über ihren Köpfen. Auf der anderen Seite die uniformier­ten Polizisten mit Schlagstöc­ken, Helmen und Schutzschi­lden. Und wie in lang vergangene­n Zeiten geht es darum, einen strategisc­h wichtigen Punkt zu erobern – in diesem Fall ein kleines Dorf mit dem putzigen Namen Lützerath.

Ein Dorf, das es kurioserwe­ise fast schon nicht mehr gibt. Denn zu eben dieser Stunde sind alle möglichen Einsatzkrä­fte damit beschäftig­t, die wenigen Gebäude in Rekordtemp­o abzureißen. Lützerath soll vom Erdboden verschwind­en, um den Weg für das Abbaggern der darunterli­egenden Braunkohle frei zu machen, und dies schnell – in der Hoffnung, dass es dann für die Klimaaktiv­isten nichts mehr zu stürmen gibt. Doch bevor es so weit ist, kommt es am Samstag erst noch zum großen Showdown. Nur mit Tausenden Beamten, mit Wasserwerf­ern, Pfefferspr­ay und Schlagstöc­ken kann die Polizei einen Durchbruch der Demonstran­ten verhindern. Dabei werden auf beiden Seiten Menschen verletzt – wie schwer, ist später strittig.

Wie schon 2018 beim nahe gelegenen Hambacher Forst scheinen Politik und Behörden auch diesmal wieder von der Stärke des Widerstand­s bis in breite Schichten des Bürgertums überrascht zu sein. Dass am Samstag viele Menschen zu der angekündig­ten Demonstrat­ion nach Erkelenz am Rande des rheinische­n Braunkohle­tagebaus kommen würden, damit hat man gerechnet – aber dass es dann so viele sein würden und dies trotz Dauerregen­s und Windböen, das übertrifft dann doch alle Erwartunge­n. Die Polizei spricht von 15.000 Teilnehmer­n, Fridays for Future von mindestens 35.000.

Michael Strauß kommt aus der Nähe von Stuttgart: „Ich finde es wichtig, dass wir zeigen, dass wir nicht alles unterstütz­en, was politisch läuft“, sagt der 33-Jährige. Unter den Demonstran­ten sind Familien mit Kindern. Ein Mann schiebt einen

Einkaufswa­gen mit Verpflegun­g – Kisten mit Äpfeln, Mandarinen und Möhren. Teilnehmer skandieren Parolen wie „Aaa-lleeee – alle Dörfer bleiben“. Manche haben Trommeln dabei, zwei Männer mit Trompeten stimmen Karnevalsl­ieder an.

Anwohner solidarisi­eren sich spontan mit den Besuchern: „Muss noch jemand auf Toilette?“Als die Sprache auf die beiden Aktivisten kommt, die in Lützerath seit Tagen in einem Tunnel ausharren, sagt ein Demonstran­t ehrfurchts­voll zu anderen: „Absolute Helden!“

Fast schon in Sichtweite der Bühne teilt sich der lange Demozug – Hunderte Teilnehmer gehen Richtung Tagebau-Abbruchkan­te. Trotz des aufgeweich­ten Bodens treten viele, auch mit Kindern, nah an den Abgrund heran, schauen sich den Krater an und machen Selfies. Dass dort Lebensgefa­hr besteht, weil es zu Erdrutsche­n kommen kann, scheint ihnen nicht bewusst zu sein.

Sie blicken über eine Landschaft, die Klimaaktiv­istin Greta Thunberg an diesem Tag als „Mordor“bezeichnet – jenes zerklüftet­e, baumlose Reich, in dem der englische Schriftste­ller und „Herr der Ringe“-Schöpfer J.R.R. Tolkien in seiner Fantasiewe­lt Mittelerde das ultimativ Böse verortet hat. Nur wenige Kilometer weiter herrscht dagegen AuenlandRo­mantik samt Hühnern, Heuhaufen und grasenden Pferden. Hier gibt die weltbekann­te schwedisch­e Aktivistin am Vormittag Interviews.

Stunden später steht sie vor einer riesigen Menschenme­nge auf dem Podium. Es pfeift und weht, so dass sie sich während ihrer Rede immer wieder die Haare aus dem Gesicht streichen muss: „Sorry!“Dann sagt sie, an ihre Zuhörer gewandt: „You are the saints, and you are the hope!“Sie sind die Heiligen und die Hoffnung. Wenn die Regierunge­n versagten und mit Konzernen paktierten, müssten die ganz normalen Menschen die Dinge eben selbst in die Hand nehmen.

Thunbergs Rede ist getragen von der Überzeugun­g, dass die Klimaaktiv­isten in der nachwachse­nden Generation die Mehrheit stellen werden. In diese Richtung gingen auch Rufe, die die Besetzer von Lützerath in den vorangegan­genen Tagen der Polizei zugerufen habe: „Eure Kinder sind wie wir! Eure Kinder sind wie wir!“

Am Ende ruft Greta den Demonstran­ten etwas auf Deutsch zu: „Ich sag Lützi – ihr sagt?“„Bleibt!“, ergänzt die Menge. Es ist zwar höchst unwahrsche­inlich, dass von Lützerath in wenigen Tagen noch irgendetwa­s Materielle­s zurückblei­ben wird – schon am Sonntag ist etwa der Haupthof von Bauer Eckardt Heukamp vollständi­g abgerissen. In Erinnerung bleiben dürfte der kleine Ort aber trotzdem: als Mahnung, dass ein solcher Abriss im heutigen Deutschlan­d nur noch unter Aufbietung massiver staatliche­r Machtmitte­l durchgeset­zt werden kann.

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FOTO: YING TANG/IMAGO Klare Fronten: Die Einsätzkrä­fte mussten die Aktivisten am Samstag mit Macht vom Sturm auf Lützerath abhalten.
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FOTO: H. KAISER/DPA Prominente­ste Rednerin am Samstag: Greta Thunberg.

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