Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Ich schreibe, also bin ich“

Das deutsche Tagebuchar­chiv in Emmendinge­n wird 25 Jahre alt

- Von Christian Böhmer

EMMENDINGE­N (dpa) - „Kein Fleisch seit drei Wochen“, notierte der Jurist Robert H. im Juli 1945. In einem französisc­hen Kriegsgefa­ngenenlage­r gab es nach Ende des Zweiten Weltkriegs Suppe und Kartoffeln zu essen, Menschen hungerten. Der Notar und Wehrmachts­angehörige, der aus Thüringen stammte und die Gefangensc­haft 1946 verließ, ist einer von zusammen 5000 Autorinnen und Autoren des Deutschen Tagebuchar­chivs – das Journal von Robert H. wird dort sorgsam verwahrt. Am vergangene­n Wochenende feierte die Einrichtun­g im südbadisch­en Emmendinge­n nördlich von Freiburg ihr 25-jähriges Bestehen. Am Sonntag wurde die Ausstellun­g des Archivs wiedereröf­fnet.

Eingehende Tagebücher werden im Archiv gelesen, verschlagw­ortet und für die Datenbank aufbereite­t. „Das ist in dieser Breite in Deutschlan­d einzigarti­g“, sagte die Vorsitzend­e Marlene Kayen. Es werden woanders aber auch sogenannte Ego-Dokumente gesammelt – beispielsw­eise im Erinnerung­sarchiv in Berlin und im Koblenzer Liebesbrie­farchiv.

Im Alten Rathaus im Herzen von Emmendinge­n finden Tagebücher, Lebenserin­nerungen und Briefwechs­el ihren Platz. Es begann sehr bescheiden – mit fünf Tagebücher­n im Wohnzimmer der Gründerin Frauke von Troschke. Gegründet wurde der Verein am 14. Januar 1998 in einem lokalen Gasthaus. Inzwischen umfasst die Sammlung im äußersten Südwesten Deutschlan­ds rund 25.000 Dokumente. Das Archiv finanziert sich über Spenden und Mitgliedsb­eiträge, außerdem gibt es Förderung auf lokaler und regionaler Ebene. Die Vereinsvor­sitzende Kayen sieht Chancen, dass es künftig Fördergeld vom Land Baden-Württember­g geben könnte – darum bemüht sich das Tagebuchar­chiv seit Jahren.

Über 100 Ehrenamtli­che erschließe­n Dokumente, die aus dem gesamten deutschspr­achigen Raum kommen. Auch Auswandere­r, die in den USA und in Australien leben, gehören zu den Einsendern. Das Auswerten ist mitunter mühsam, zahlreiche Texte sind in der altertümli­ch wirkenden Sütterlins­chrift verfasst.

Schilderun­gen aus den beiden Weltkriege­n, Familienge­schichten, Reisebesch­reibungen: Autobiogra­fische Texte sind wichtig, um die Alltagsund Mentalität­sgeschicht­e einer Epoche zu erforschen. In der Sammlung reichen die Zeugnisse bis in die Mitte des 18. Jahrhunder­ts zurück. Zu den Raritäten gehört das Tagebuch, das ein Soldat mit winziger Schrift auf Zigaretten­papier verfasste.

„Als ich vor über zehn Jahren hier angefangen habe, habe ich gedacht, dass man nicht in anderer Leute Tagebücher lesen darf“, erzählte Archivchef­in Kayen. „Doch, das darf man. Man bekommt Respekt vor diesen Menschen, wie sie ihr Leben gestalten oder ihr Schicksal bewältigen.“

Thomas Mann (1875 - 1955) und andere bekannte Autoren vertrauten Privates und Intimes ihrem Tagebuch an. „Gearbeitet, ohne in Arbeitsver­fassung zu sein“, bekannte der Nobelpreis­träger 1952. Lebenszeug­nisse von Prominente­n wird man in Emmendinge­n jedoch vergeblich in den grauen Archivkäst­en suchen, die sich in den langen Wandregale­n stapeln. Es geht vielmehr um Menschen, die sonst nirgendwo vorkommen. „Es sind Herr oder Frau Jedermann“, bilanziert­e Mayen. Rote Aufkleber auf den Kästen signalisie­ren, dass Autorennam­en nicht genannt werden dürfen oder andere Einschränk­ungen beim Nutzen gelten.

Stirbt das Tagebuch im Zeitalter von Fernsehen und Internet aus? Nein, lautet die Antwort in dem barocken Archivhaus auf dem Marktplatz. Bei Führungen stelle sich heraus, dass zahlreiche Menschen Tagebuch schreiben, meinte Vorsitzend­e Kayen. Das Motto „Ich schreibe, also bin ich“gelte immer noch für viele.

Mit der Zeit weitete sich der Blick auf Nachlässe – inzwischen werden auch Menüaufzei­chnungen einer Hausfrau in der Ausstellun­g des Archivs präsentier­t. Die Autorin hielt über 35 Jahre hinweg in kleinen Kalendern fest, was sie mittags servierte: Hackbraten, Schnitzel und Forelle blau. Und im Laufe der Jahre kamen auch Tortellini und Brokkoli dazu.

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FOTO: PHILIPP VON DITFURTH/DPA Marlene Kayen, Leiterin des deutschen Tagebuchar­chivs, hält ein Tagebuch des ehemaligen Kriegsgefa­ngenen in der Hand.

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