Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Ein einsamer Tod
Robert Drexler stirbt allein im Krankenhaus – Seine Tochter darf nicht zu ihm, weil er coronapositiv ist
LINDAU - Es sind die letzten Tage und Stunden im Leben ihres Vaters, die Anja Hotz nicht mehr loslassen. Sie wäre gerne bei ihm gewesen, doch als er in der Asklepios Klinik Lindau gestorben ist, war er ganz allein. Weil dort niemand erkannte, dass er im Sterben liegt.
Bis er in die Klinik eingeliefert wurde, lebte Robert Drexler allein in seiner Wohnung in Wasserburg. Wie seine Tochter Anja Hotz erzählt, wurde der 85-Jährige von einem Pflegedienst und seinen beiden Kindern unterstützt. Am Morgen des 8. Oktober stürzte er. „Der Pflegedienst hat ihn so vorgefunden und den Notruf gewählt“, sagt Anja Hotz, die kurz darauf hinzugekommen war. Die Sanitäter hätten ihren Vater auf einen Stuhl gesetzt, dann habe er sich schnell stabilisiert. Trotzdem sollte er zur Abklärung ins Krankenhaus, obwohl er es gar nicht wollte. „Ich habe noch zu ihm gesagt: ,Papa, es ist nur für eine Nacht.’“
Zu diesem Zeitpunkt hat die 56Jährige nicht damit gerechnet, dass sie und ihr Vater sich nie wieder sehen würden. Doch als er stationär ins Krankenhaus aufgenommen wurde, wurde er auf Corona getestet. Und dieser Routinetest fiel positiv aus. Das heißt: Robert Drexler durfte weder so schnell wie zunächst erhofft wieder nach Hause, noch durften seine Angehörigen ihn besuchen. Das trifft Anja Hotz besonders. „Er war für sein Alter fit und hat gut reden können, aber er war sicherlich auch beginnend dement“, sagt sie. „Ich wäre gern für ihn da gewesen.“Weil sie sich auch sonst viel um ihn gekümmert habe, habe sie gewusst, was er brauchte.
Doch bei Patienten mit Corona ist die Klinik streng. Besuche bei Patientinnen und Patienten mit Covid-19
seien nicht erlaubt – zum Schutz der Angehörigen, aber auch zum Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der anderen Patientinnen und Patienten, schreibt Christopher Horn, Pressesprecher der Asklepios Klinik Lindau, auf Nachfrage der Lindauer Zeitung. Dennoch gebe es Ausnahmen, etwa um Menschen zu besuchen, die im Sterben liegen.
Etwa eine Woche, nachdem ihr Vater ins Krankenhaus eingeliefert worden war, kam Anja Hotz zum ersten Mal der Gedanke, dass ihr
Vater dort sterben könnte. „Er hat nichts mehr gegessen und getrunken. Seine Tabletten hat er wieder ausgespuckt“, liest sie aus der Pflegedokumentation vor. Er sei sehr schläfrig gewesen, heißt es darin von Anfang an. Immer wieder fragte sie, ob sie ihn sehen dürfe, habe aber immer eine Absage bekommen. Die Ärzte hätten darauf verwiesen, dass die Vitalwerte ihres Vaters gut seien.
Robert Drexlers Gesundheitszustand habe sich während des Krankenhausaufenthalts verschlechtert, er habe ein hypoaktives Delir entwickelt, schreibt Horn. Das ist ein Zustand von akuter Verwirrtheit, bei dem die Patienten apathisch wirken, Blutdruck und Puls jedoch unauffällig sind. Dennoch habe es nach Einschätzung der behandelnden Ärzte keine Anzeichen dafür gegeben, dass der 85-Jährige sterben würde. „Sein Zustand wurde als nicht unmittelbar lebensbedrohlich eingestuft“, schreibt Pressesprecher Horn. Aufgrund der geltenden Corona-Bestimmung habe die Klinik den Angehörigen leider keinen persönlichen Besuch ermöglichen können.
Wie Anja Hotz erzählt, habe eine Krankenschwester wenigstens einen Kontakt übers Telefon hergestellt. Sie habe Robert Drexler den Hörer hingehalten, damit er die vertraute Stimme seiner Tochter hört. Zu diesem Zeitpunkt war er nicht mehr ansprechbar, öffnete seine Augen nur noch hin und wieder. Mit Nachdruck habe sie ihm gesagt, dass er durchhalten solle. Sie komme zu ihm, sobald sie dürfe. „Ein gequältes ,Ja’ und langsames, schweres Atmen waren das letzte, was ich von meinem Vater gehört habe“, sagt Anja Hotz und schluckt die Tränen hinunter. In der Nacht auf den 18. Oktober verstarb Robert Drexler. Sein Todeszeitpunkt wird zwischen 17. Oktober, 22.30 Uhr, und 18. Oktober, 0.30 Uhr, angegeben. „Der Tod des Patienten hat sich nicht angekündigt und war für das Team der Station und die behandelnden Ärzte nicht vorherzusehen“, schreibt Horn.
Als ihr Handy nachts klingelte, war Anja Hotz sofort klar, dass die Klinik dran ist, um die Todesnachricht zu überbringen. Sie und ihr Mann fuhren direkt hin. „Es war auf einmal möglich, ihn zu sehen“, sagt sie. Sie wurden an der Pforte abgeholt und durchs Krankenhaus auf die Station begleitet. Dort bekamen sie die Corona-Schutzausrüstung: Haube, Mundschutz, Kittel, Handschuhe. Dann durften sie in sein Zimmer. „Er lag da ganz allein in einem riesigen Krankenzimmer“, sagt Anja Hotz. Der Anblick hat ihr Herz gebrochen. Sie versteht nicht, warum sie ihn nicht noch lebend sehen konnte – zumal es inzwischen außerhalb des Krankenhauses kaum noch Corona-Beschränkungen gibt. „Ich hätte gerne selbst darüber entschieden, ob ich mich in dieser Situation vor Corona schützen will“, sagt sie.
Um ihre Fragen zu klären, aber auch um ihren Standpunkt zu vertreten, hat sie ein persönliches Gespräch mit dem Geschäftsführer Boris Ebenthal und dem Chefarzt Dr. Heinz Linhart geführt. „Das habe ich eingefordert“, sagt Anja Hotz. Denn es ist ihr ein Anliegen, darüber zu sprechen und den Finger in die Wunde zu legen. „Ich mache der Klinik keinen Vorwurf, dass er gestorben ist, sondern wie er gestorben ist“, sagt sie. „Das ist doch nicht menschlich.“