Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Eines der finstersten Kapitel des IS-Terrors
Bundestag will Verbrechen gegen Jesiden als Völkermord anerkennen – Bis heute fehlt von 2700 Entführten jede Spur
BERLIN/RAVENSBURG (dpa/epd/ AFP/mö) - Die Verbrechen gegen die jesidische Religionsgemeinschaft sollen in Deutschland als Völkermord anerkannt werden. Über einen entsprechenden Antrag, hinter dem die Ampel-Fraktionen und die Union stehen, wird im Bundestag voraussichtlich am Donnerstag beraten. Darin wird auch auf eine besondere Verantwortung Deutschlands hingewiesen. Diese leite sich nach Einschätzung der Initiatoren sowohl daraus ab, dass viele Angehörige der kurdischen Gemeinschaft in Deutschland leben, aber auch aus der Tatsache, dass an den Gräueltaten und massiven Menschenrechtsverletzungen gegen Jesidinnen und Jesiden im Irak und in Syrien auch islamistische Terroristen aus Deutschland beteiligt waren.
2014 lebten im Irak noch rund 550.000 Jesiden. Im August dieses Jahres eroberte die Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS) die Shingal-Region und verfolgte gezielt Angehörige der jesidischen Minderheit. Tausende Frauen und Mädchen wurden sexuell missbraucht und als Sklavinnen verschleppt. Jungen wurden als Kindersoldaten zwangsrekrutiert, ihre Väter häufig ermordet. Ein Sonderermittlungsteam der Vereinten Nationen kam zu dem Schluss, dass die Extremisten im Irak einen Völkermord an den Jesiden begangen haben. Mittlerweile ist die Terrormiliz militärisch besiegt, IS-Zellen sind im Irak und in Syrien aber weiter aktiv. Aktuell leben rund 300.000 Jesidinnen und Jesiden in Lagern für
Binnenvertriebene im Nordirak: Die „Schwäbische Zeitung“bittet ihre Leser seit Jahren, diesen Flüchtlingen in der Aktion „Helfen bringt Freude“Perspektiven zu eröffnen.
Als Sachverständiger hat Professor Dr. Jan Ilhan Kizilhan, Professor für Soziale Arbeit an der Fakultät für Sozialwesen an der Dualen Hochschule Villingen-Schwenningen und Leiter des Instituts für Psychotherapie und Psychotraumatologie an der Universität Dohuk, an dem Antrag mitgewirkt: „Die Anerkennung bedeutet auch eine Verneigung des Bundestags und Respekt vor den Jesiden.“Der Schritt des Bundestages ermutige die Jesiden, an die Rückkehr in ihre Heimat im Shingal-Gebirge zu denken. „Weiter will Deutschland den Versöhnungsprozess im Irak zwischen Jesiden, Christen und Moslems voranbringen.“
Denn das Kapitel Vertreibung, Entführung, Mord ist längst nicht abgeschlossen. Insgesamt mehr als 6400 Jesidinnen und Jesiden wurden vom IS entführt; bis heute fehlt von mehr als 2700 von ihnen jede Spur, wie es in der Resolution des Bundestags heißt. Später wurden in der Shingal-Region Massengräber gefunden, die Aufklärung der Verbrechen ist bis heute nicht abgeschlossen. In der Vorlage ist von „unbeschreiblichen Gräueltaten“und von „tyrannischem Unrecht“der IS-Miliz die Rede. „Dabei verfolgte der IS insbesondere das Ziel einer vollständigen Auslöschung der jesidischen Gemeinde“, heißt es in dem Antrag.
„Die Anerkennung als Völkermord hilft bei der Aufarbeitung der Geschehnisse“, erklärte die SPD-Abgeordnete Derya Türk-Nachbaur. „Die Täter von damals müssen weiterhin mit einer Strafverfolgung rechnen, wir werden alles tun, um den Verfolgungsdruck aufrechtzuerhalten“, stellte sie klar. „Völkermord verjährt nicht.“Es müssten noch viele Massengräber exhumiert, die Opfer beerdigt und der Verbleib der Vermissten geklärt werden.
Der menschenrechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Michael Brand, sieht auch Aufgaben für die Zukunft. Mit Blick auf die Vertriebenen sagte er, es müssten die Grundlagen für die Befriedung der Region und für einen langfristigen Versöhnungsprozess geschaffen werden, damit ein Zusammenleben in dem angestammten Siedlungsgebiet der Jesiden ermöglicht werden könne.
Erschreckende Berichte über die Misshandlung jesidischer Frauen waren in den vergangenen Jahren auch bei mehreren Prozessen gegen IS-Rückkehrerinnen vor deutschen Gerichten zu hören. Die Frauen waren von den Terroristen vergewaltigt, als „Sklavinnen“ausgebeutet und „verkauft“worden.
Ein Sonderkontingent des Landes Baden-Württemberg für schutzbedürftige jesidische Frauen und ihre Kinder aus dem Irak hatte 2014 die Aufnahme von 1100 Frauen und Kindern in Deutschland inklusive psychologischer und medizinischer Begleitung ermöglicht. Was die Situation der Vergewaltigungsopfer zusätzlich erschwert, ist, dass die jesidische Glaubenslehre Kinder nur dann als Teil der Religionsgemeinschaft anerkennt, wenn beide Elternteile jesidischen Glaubens sind.