Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Zeitenwende wird konkreter
Scholz lässt sich beim Rüstungselektronikkonzern Hensoldt in Ulm den Stand der deutschen Militärtechnologie zeigen
ULM - Mit 100 Milliarden Euro will die Bundesregierung die Bundeswehr auf Vordermann bringen – der Rüstungselektronikkonzern Hensoldt hat Ideen, wie ein Teil des Geldes ausgegeben werden könnte. Am Montag hatte Hensoldt-Vorstandschef Thomas Müller die Gelegenheit, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Ulmer Standort zu zeigen, was das Unternehmen leisten kann. Der Rüstungsmanager versprach: „Ihre Firma Hensoldt ist bereit zu liefern. Und zwar schnell.“
Dass der Hensoldt-Mann von „Ihrer Firma“sprach, ist kein Zufall. Denn nach Ulm kam der Kanzler nicht nur als Kunde, sondern auch als Miteigentümer. 2021 ist der Bund mit einer Sperrminorität von 25,1 Prozent bei dem im Nebenwerteindex SDax gelisteten Konzern eingestiegen, der vier Jahre davor aus der Elektroniksparte des Rüstungsgeschäftes von Airbus hervorgegangen war. So soll unfreundlichen Mächten Zugriff auf deutsche Schlüsseltechnologien verwehrt bleiben.
Mehrere davon standen am Montag auf dem Hensoldt-Betriebsgelände in der Ulmer Weststadt zu Präsentationszwecken bereit – darunter das Luftabwehrsystem Iris-T, von dem bereits eines in der Ukraine im Einsatz ist. Drei weitere sollen demnächst geliefert werden. Jedes kann eine Großstadt schützen.
Angesichts der Raketenangriffe, mit denen Russland ukrainische Metropolen überzieht, sind sie ein wichtiger Baustein jener Unterstützung, die der Kanzler gerne hervorhebt, wenn er aus den Reihen der oppositionellen Union, aber auch der eigenen Koalitionspartner FDP und Grüne, zu mehr Militärhilfe für die Ukraine gedrängt wird. Wir helfen doch, lautet angesichts der anhaltenden Forderungen nach der Lieferung von Leopard-Kampfpanzern Scholz’ Botschaft: „Das tun wir in einem Ausmaß wie nur wenige andere.“Klar könnten die USA mit ihrem 800 Milliarden Dollar schweren Verteidigungsetat am meisten leisten. „Aber dann kommen schon Großbritannien und Deutschland, die mit ihrem Engagement die Ukraine unterstützen“, betont Scholz.
Im Fall von Iris-T handelt es sich um eine Zusammenarbeit von drei Firmen mit Produktionsstandorten in Baden-Württemberg: Hensoldt steuert das Radarsystem bei, die Software kommt vom Ulmer AirbusStandort und die eigentlichen Flugabwehrraketen vom Rüstungskonzern Diehl aus Überlingen. Für Hensoldt handelte es sich um einen Auftrag in Höhe von 60 Millionen Euro.
Warum die Lieferung – wie auch andere – aus seiner Sicht nötig ist, begründete Scholz in Ulm erneut. „Ein jahrzehntelanges Verständnis, das Grenzen in Europa nicht mit Gewalt verschoben werden, ist aufgekündigt worden“, betonte der Kanzler mit Blick auf den russischen Angriff auf die Ukraine. Diesen Grundsatz müsse man wieder zur Geltung bringen, und das „ist auch unser Ziel, wenn wir die Ukraine mit Waffen unterstützen.“
Zur Zeitenwende gehört aber eben auch: Die Bundeswehr wird modernisiert. Überall, wo es um Sensoren, Radare oder Störsender geht, will Hensoldt dabei sein. Nicht nur mit Radaren für die Iris-TFlugabwehr, von denen eines, auf die Ladefläche eines Lastwagens montiert, beim Scholz-Besuch vor einer parkt.
Daneben steht ein deutlich kleinerer Geländewagen mit einer haushohen Antenne auf dem Dach. Es handelt sich um ein so genanntes Passivradar, erläutert ein HensoldtSprecher. Seit zwei Jahren sei es auf dem Markt und gehöre zu dem modernsten, was die Branche zu bieten hat. Es erkennt Flugobjekte ohne aber – im Gegensatz zu einem herkömmlichen Radar – selbst elektromagnetische Signale auszusenden. Eine Armee, die es nutzt, kann sich ein Bild davon machen, welche Flugobjekte in der Luft unterwegs sind, ohne selbst erkennbar zu sein.
Und da ist ein so genanntes Sensorverbundfahrzeug, das mit Optronik
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erläutert, was er unter der von ihm ausgerufenen Zeitenwende versteht.
Produktionshalle
vom Hensoldt-Standort Oberkochen bei Aalen ausgestattet ist. Außen angebrachte Sensoren setzen Informationen zu einem virtuellen Umgebungsbild zusammen – eine Technik, die auch in Panzern angewendet werden kann, in denen die Sicht normalerweise sehr eingeschränkt ist.
Welcher Anteil des BundeswehrSondervermögens am Ende bei Hensoldt landet, dazu hält man sich bedeckt – allerdings hat das Unternehmen, dessen Firmensitz sich in Taufkirchen bei München, der größte Industriestandort aber in Ulm befindet, gerade seine Prognosen nach oben korrigiert. Für 2023 rechnet man nun mit einem Umsatzwachstum zwischen sieben und zehn Prozent, mittelfristig sollen die Erlöse pro Jahr um zehn Prozent zulegen.
Die politische Stimmungslage kommt dem Konzern zugute: CSUChef Markus Söder hat schon mal gefordert, nicht nur ukrainische Städte mit Iris-T-Systemen auszustatten. „Es reicht nicht, nur unsere Partner zu schützen, sondern wir müssen das auch für das eigene Land tun“, hatte Söder nach Bekanntgabe der Lieferung im Herbst in der „Bild“-Zeitung gefordert.
Und auch bei den Sozialdemokraten entfaltet die Zeitenwende Wirkung, nicht nur wegen des Sondervermögens. Gleichzeitig, auch das bekräftigte der Kanzler in Ulm, sollen die deutschen Rüstungsausgaben dauerhaft zwei Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung betragen – eine Forderung, mit der der abgewählte US-Präsident Donald Trump bei den Deutschen noch abgeblitzt war. „Das bedeutet natürlich auch, dass wir langfristige Kooperationen mit der Verteidigungsindustrie zustande bringen müssen“, sagt Scholz nun über das neue deutsche Engagement in der Rüstung. „Und das wollen wir, und das werden wir tun als eine der Konsequenzen der Zeitenwende.“
„Ein jahrzehntelanges Verständnis das Grenzen in Europa nicht mit Gewalt verschoben werden ist aufgekündigt worden.“