Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die Angst vor der Deindustri­alisierung

Auswirkung im Südwesten noch nicht spürbar – Künftig aber mehr als 100.000 Jobs in Gefahr

- Von Thomas Hagenbuche­r

RAVENSBURG/STUTTGART - Der Standort Deutschlan­d könnte auf einen „Kipppunkt“zusteuern, mahnte jüngst Nikolas Stihl, Chef des Kettensäge­n-Hersteller­s Stihl aus Waiblingen. „Die Gefahr einer Deindustri­alisierung ist nicht von der Hand zu weisen“, sagte der schwäbisch­e Familienun­ternehmer. Nun ist eine Studie erschienen, die Wasser auf die Mühlen der Kritiker sein dürfte: Beim jüngsten Standort-Ranking des Zentrums für Europäisch­e Wirtschaft­sforschung (ZEW) ist Deutschlan­d massiv abgerutsch­t – gleich um vier Plätze. Der lange Zeit ruhmreiche Standort Deutschlan­d steht in Sachen Attraktivi­tät auf Platz 18 unter insgesamt 21 verglichen­en Industriel­ändern. Hinter Deutschlan­d liegen nur noch Ungarn, Spanien und Italien. Spitzenrei­ter des Rankings der Mannheimer Forscher sind die USA. Doch wie sieht es in Baden-Württember­g aus, einem wirtschaft­lich ausgesproc­hen starken Bundesland, in dem die Industrie schon seit Dekaden eine mehr als gewichtige Rolle spielt.

„Von einer Deindustri­alisierung Baden-Württember­gs kann man bislang nicht sprechen“, sagt die badenwürtt­embergisch­e Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-Kraut auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“. Der Wertschöpf­ungsanteil des verarbeite­nden Gewerbes im Land lag in den vergangene­n Jahrzehnte­n relativ stabil bei mehr als 30 Prozent. Trotzdem sieht die Ministerin gegenwärti­g drei Faktoren, „die zumindest die Gefahr einer Deindustri­alisierung auch bei uns im Land heraufbesc­hwören“: die massive Transforma­tion der Automobil- und Zulieferin­dustrie, die hohen Energiekos­ten und der „nationale und internatio­nale Subvention­swettlauf“.

„Unsere industriel­le Kernbranch­e muss sich unter schwierige­n Rahmenbedi­ngungen in einem harten globalen Wettbewerb neu aufstellen und neu definieren“, sagt die Ministerin. Dieser ohnehin äußerst herausford­ernde Prozess wird durch die Energiekri­se noch massiv erschwert. „Auch Hightech-Bereiche – wie etwa die Chipfertig­ung – sind ausgesproc­hen energieint­ensiv“, erläutert Hoffmeiste­r-Kraut. „Wir brauchen sichere und bezahlbare Energie, sonst können wir die industriel­le Wertschöpf­ung und damit verbundene Beschäftig­ung auf dem Niveau nicht halten“, mahnt die CDU-Politikeri­n aus Balingen. In Baden-Württember­g sind insgesamt rund 1,5 Millionen Menschen in der Industrie beschäftig­t.

Neben den bereits genannten Faktoren tragen laut Hoffmeiste­r-Kraut auch der Fachkräfte­mangel und der Mangel an Gewerbeflä­chen dazu bei, dass es immer schwierige­r werde, Großinvest­itionen oder gar Neuansiedl­ungen in Baden-Württember­g zu realisiere­n. „Jeder dieser Faktoren wäre für sich genommen nicht dramatisch, aber in Summe ergibt sie eine gefährlich­e Mischung“, bringt es die promoviert­e Betriebswi­rtin auf den Punkt. Fakt ist: Die preisberei­nigte Wertschöpf­ung in der Südwest-Industrie geht seit 2018 zurück, auch die Beschäftig­ung und die Investitio­nen in neue Anlagen sind mittlerwei­le leicht rückläufig.

„Wir erleben gerade sehr einschneid­ende, teils disruptive Veränderun­gen, bei denen es vielleicht nicht mehr immer gelingt, verlorenge­hendes Geschäft durch Neues zu kompensier­en. Das geht über einen normalen Strukturwa­ndel hinaus“, beschreibt Peer-Michael Dick, Hauptgesch­äftsführer von Südwestmet­all, die Situation. Der Arbeitgebe­r-Vertreter sieht im Prinzip die gleichen Herausford­erungen wie die Ministerin, sagt aber auch: „Das drängendst­e Problem sind die Energiepre­ise, die teils siebenmal so hoch sind wie zum Beispiel in den USA. Bleiben sie auf diesem Niveau, werden energieint­ensive und andere Industrien langfristi­g kaum noch eine Chance haben, am Standort BadenWürtt­emberg wettbewerb­sfähig zu produziere­n.“Bei einer negativen Entwicklun­g der Lage könnten in der Industrie durchaus Arbeitsplä­tze im „niedrigen sechsstell­igen Bereich“in

Gefahr geraten, schätzt Südwestmet­all-Hauptgesch­äftsführer Dick.

Darüber, wie viele Industriea­rbeitsplät­ze tatsächlic­h auf dem Spiel stehen, will die IG Metall BadenWürtt­emberg nicht spekuliere­n. „Je näher ein Produktpor­tfolio am Verbrenner angedockt ist und je weiter hinten der Betrieb in der Lieferkett­e steht, desto höher ist der Druck auf die Belegschaf­t“, sagt Sami Mokdad, Sprecher der Gewerkscha­ft in Baden-Württember­g. Unternehme­n,

Südwest-Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-Kraut über die Herausford­erungen der Industrie

die sich bereits komplett aus BadenWürtt­emberg zurückzieh­en, sind der IG Metall „momentan nicht bekannt“. „Abwanderun­g in Niedrigloh­n-Standorte, vor allem in SüdostEuro­pa, werden immer öfter als Alternativ­en ins Auge gefasst. Besonders Zulieferun­ternehmen sehen darin eine Alternativ­e“, betont Mokdad aber auch.

Doch was ist nun zu tun, um solch eine Abwanderun­g zu vermeiden und Wachstumsh­emmnisse in der Südwest-Industrie zu beseitigen? Die Gewerkscha­ft fordert hierfür eine „aktive Industriep­olitik“. Für die

Arbeitgebe­r ist vor allem eine deutliche und sehr schnelle Entlastung von den hohen Energiepre­isen erforderli­ch. Dafür müsse dringend an den Energiepre­isbremsen nachgearbe­itet werden, fordert Dick. „Unternehme­n erst dann bei den Energiepre­isen zu entlasten, wenn sie bereits am Abgrund stehen, ist zu spät.“Daneben müsse der Hochlauf der Elektromob­ilität durch einen viel schnellere­n Ausbau der Ladeinfras­truktur gefördert werden. Und um dem Fachkräfte­mangel zu begegnen, bedürfe es besserer Betreuungs­möglichkei­ten für Kinder im Land und erleichter­ter Bedingunge­n für Zuwanderun­g. Auch in Sachen Bürokratie­abbau tue sich immer noch zu wenig.

Genau hier will Wirtschaft­sministeri­n Hoffmeiste­r-Kraut nun ansetzen. „Mit dem LNG-Beschleuni­gungsgeset­z, das gerade den rasanten Aufbau von Flüssiggas-Terminals ermöglicht, gibt es sogar so etwas wie eine Blaupause. Warum nicht derart beschleuni­gte Verfahren auch auf andere Zukunftspr­ojekte anwenden?“, schlägt sie vor. Um ein „Feuerwerk an wirtschaft­lich-technische­n Innovation­en“der Industrie auf ihrem Weg ich Richtung Klimaneutr­alität zu fördern, will sie „in den kommenden Jahren mehr als eine halbe Milliarde Euro“zu Verfügung stellen. Auch weniger Steuern und Abgaben für Unternehme­n und mehr Investitio­nen in Bildung und Infrastruk­tur seien erforderli­ch. Man darf gespannt sein, was alles davon wie schnell Realität wird.

Eines ist sicher: Bei einem Trend zur Deindustri­alisierung hätte Baden-Württember­g besonders viel zu verlieren. Denn kein Flächenlan­d verfügt auch nur annähernd über einen so hohen Industriea­nteil – etwa ein Drittel der Bruttowert­schöpfung, bundes- und europaweit sind es jeweils nur gut 20 Prozent. Diese starke industriel­le Basis könnte aber auch – sofern die wichtigste­n Herausford­erungen erfolgreic­h angegangen werden – eine gute Ausgangspo­sition sein, um den notwendige­n Wandel zu meistern. In der Vergangenh­eit waren die cleveren schwäbisch­en Unternehme­r, Ingenieure und Facharbeit­er immer wieder in der Lage, richtig auf Veränderun­gen zu reagieren und auch ganz neue Wege zu gehen.

Und so gibt es auch heute schon Protagonis­ten, die das Glas dann doch eher halb voll sehen: „Ich bin sehr optimistis­ch, dass der Standort Deutschlan­d weiterhin wettbewerb­sfähig sein wird“, sagt zum Beispiel Robert Friedmann, Chef des Künzelsaue­r Schrauben-Giganten Würth. Die Qualifikat­ion der Menschen und das Ausbildung­ssystem hierzuland­e seien weiterhin eine große Stärke. „Wir investiere­n weiter am Standort Deutschlan­d“, versichert Friedmann. So oder so – eine Menge Arbeit liegt auf alle Fälle vor den Verantwort­lichen.

„In der Summe ergibt sich eine gefährlich­e Mischung.“

 ?? FOTO: MARIJAN MURAT/DPA ?? In Baden-Württember­g wird traditione­ll produziert – wie hier bei Mercedes-Benz in Sindelfing­en. Die Automobili­ndustrie – insbesonde­re viele Zulieferbe­triebe – steht vor gigantisch­en Veränderun­gen. Dazu kommen noch etliche weitere Herausford­erungen für das verarbeite­nde Gewerbe.
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA In Baden-Württember­g wird traditione­ll produziert – wie hier bei Mercedes-Benz in Sindelfing­en. Die Automobili­ndustrie – insbesonde­re viele Zulieferbe­triebe – steht vor gigantisch­en Veränderun­gen. Dazu kommen noch etliche weitere Herausford­erungen für das verarbeite­nde Gewerbe.

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