Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Angst vor der Deindustrialisierung
Auswirkung im Südwesten noch nicht spürbar – Künftig aber mehr als 100.000 Jobs in Gefahr
RAVENSBURG/STUTTGART - Der Standort Deutschland könnte auf einen „Kipppunkt“zusteuern, mahnte jüngst Nikolas Stihl, Chef des Kettensägen-Herstellers Stihl aus Waiblingen. „Die Gefahr einer Deindustrialisierung ist nicht von der Hand zu weisen“, sagte der schwäbische Familienunternehmer. Nun ist eine Studie erschienen, die Wasser auf die Mühlen der Kritiker sein dürfte: Beim jüngsten Standort-Ranking des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) ist Deutschland massiv abgerutscht – gleich um vier Plätze. Der lange Zeit ruhmreiche Standort Deutschland steht in Sachen Attraktivität auf Platz 18 unter insgesamt 21 verglichenen Industrieländern. Hinter Deutschland liegen nur noch Ungarn, Spanien und Italien. Spitzenreiter des Rankings der Mannheimer Forscher sind die USA. Doch wie sieht es in Baden-Württemberg aus, einem wirtschaftlich ausgesprochen starken Bundesland, in dem die Industrie schon seit Dekaden eine mehr als gewichtige Rolle spielt.
„Von einer Deindustrialisierung Baden-Württembergs kann man bislang nicht sprechen“, sagt die badenwürttembergische Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“. Der Wertschöpfungsanteil des verarbeitenden Gewerbes im Land lag in den vergangenen Jahrzehnten relativ stabil bei mehr als 30 Prozent. Trotzdem sieht die Ministerin gegenwärtig drei Faktoren, „die zumindest die Gefahr einer Deindustrialisierung auch bei uns im Land heraufbeschwören“: die massive Transformation der Automobil- und Zulieferindustrie, die hohen Energiekosten und der „nationale und internationale Subventionswettlauf“.
„Unsere industrielle Kernbranche muss sich unter schwierigen Rahmenbedingungen in einem harten globalen Wettbewerb neu aufstellen und neu definieren“, sagt die Ministerin. Dieser ohnehin äußerst herausfordernde Prozess wird durch die Energiekrise noch massiv erschwert. „Auch Hightech-Bereiche – wie etwa die Chipfertigung – sind ausgesprochen energieintensiv“, erläutert Hoffmeister-Kraut. „Wir brauchen sichere und bezahlbare Energie, sonst können wir die industrielle Wertschöpfung und damit verbundene Beschäftigung auf dem Niveau nicht halten“, mahnt die CDU-Politikerin aus Balingen. In Baden-Württemberg sind insgesamt rund 1,5 Millionen Menschen in der Industrie beschäftigt.
Neben den bereits genannten Faktoren tragen laut Hoffmeister-Kraut auch der Fachkräftemangel und der Mangel an Gewerbeflächen dazu bei, dass es immer schwieriger werde, Großinvestitionen oder gar Neuansiedlungen in Baden-Württemberg zu realisieren. „Jeder dieser Faktoren wäre für sich genommen nicht dramatisch, aber in Summe ergibt sie eine gefährliche Mischung“, bringt es die promovierte Betriebswirtin auf den Punkt. Fakt ist: Die preisbereinigte Wertschöpfung in der Südwest-Industrie geht seit 2018 zurück, auch die Beschäftigung und die Investitionen in neue Anlagen sind mittlerweile leicht rückläufig.
„Wir erleben gerade sehr einschneidende, teils disruptive Veränderungen, bei denen es vielleicht nicht mehr immer gelingt, verlorengehendes Geschäft durch Neues zu kompensieren. Das geht über einen normalen Strukturwandel hinaus“, beschreibt Peer-Michael Dick, Hauptgeschäftsführer von Südwestmetall, die Situation. Der Arbeitgeber-Vertreter sieht im Prinzip die gleichen Herausforderungen wie die Ministerin, sagt aber auch: „Das drängendste Problem sind die Energiepreise, die teils siebenmal so hoch sind wie zum Beispiel in den USA. Bleiben sie auf diesem Niveau, werden energieintensive und andere Industrien langfristig kaum noch eine Chance haben, am Standort BadenWürttemberg wettbewerbsfähig zu produzieren.“Bei einer negativen Entwicklung der Lage könnten in der Industrie durchaus Arbeitsplätze im „niedrigen sechsstelligen Bereich“in
Gefahr geraten, schätzt Südwestmetall-Hauptgeschäftsführer Dick.
Darüber, wie viele Industriearbeitsplätze tatsächlich auf dem Spiel stehen, will die IG Metall BadenWürttemberg nicht spekulieren. „Je näher ein Produktportfolio am Verbrenner angedockt ist und je weiter hinten der Betrieb in der Lieferkette steht, desto höher ist der Druck auf die Belegschaft“, sagt Sami Mokdad, Sprecher der Gewerkschaft in Baden-Württemberg. Unternehmen,
Südwest-Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut über die Herausforderungen der Industrie
die sich bereits komplett aus BadenWürttemberg zurückziehen, sind der IG Metall „momentan nicht bekannt“. „Abwanderung in Niedriglohn-Standorte, vor allem in SüdostEuropa, werden immer öfter als Alternativen ins Auge gefasst. Besonders Zulieferunternehmen sehen darin eine Alternative“, betont Mokdad aber auch.
Doch was ist nun zu tun, um solch eine Abwanderung zu vermeiden und Wachstumshemmnisse in der Südwest-Industrie zu beseitigen? Die Gewerkschaft fordert hierfür eine „aktive Industriepolitik“. Für die
Arbeitgeber ist vor allem eine deutliche und sehr schnelle Entlastung von den hohen Energiepreisen erforderlich. Dafür müsse dringend an den Energiepreisbremsen nachgearbeitet werden, fordert Dick. „Unternehmen erst dann bei den Energiepreisen zu entlasten, wenn sie bereits am Abgrund stehen, ist zu spät.“Daneben müsse der Hochlauf der Elektromobilität durch einen viel schnelleren Ausbau der Ladeinfrastruktur gefördert werden. Und um dem Fachkräftemangel zu begegnen, bedürfe es besserer Betreuungsmöglichkeiten für Kinder im Land und erleichterter Bedingungen für Zuwanderung. Auch in Sachen Bürokratieabbau tue sich immer noch zu wenig.
Genau hier will Wirtschaftsministerin Hoffmeister-Kraut nun ansetzen. „Mit dem LNG-Beschleunigungsgesetz, das gerade den rasanten Aufbau von Flüssiggas-Terminals ermöglicht, gibt es sogar so etwas wie eine Blaupause. Warum nicht derart beschleunigte Verfahren auch auf andere Zukunftsprojekte anwenden?“, schlägt sie vor. Um ein „Feuerwerk an wirtschaftlich-technischen Innovationen“der Industrie auf ihrem Weg ich Richtung Klimaneutralität zu fördern, will sie „in den kommenden Jahren mehr als eine halbe Milliarde Euro“zu Verfügung stellen. Auch weniger Steuern und Abgaben für Unternehmen und mehr Investitionen in Bildung und Infrastruktur seien erforderlich. Man darf gespannt sein, was alles davon wie schnell Realität wird.
Eines ist sicher: Bei einem Trend zur Deindustrialisierung hätte Baden-Württemberg besonders viel zu verlieren. Denn kein Flächenland verfügt auch nur annähernd über einen so hohen Industrieanteil – etwa ein Drittel der Bruttowertschöpfung, bundes- und europaweit sind es jeweils nur gut 20 Prozent. Diese starke industrielle Basis könnte aber auch – sofern die wichtigsten Herausforderungen erfolgreich angegangen werden – eine gute Ausgangsposition sein, um den notwendigen Wandel zu meistern. In der Vergangenheit waren die cleveren schwäbischen Unternehmer, Ingenieure und Facharbeiter immer wieder in der Lage, richtig auf Veränderungen zu reagieren und auch ganz neue Wege zu gehen.
Und so gibt es auch heute schon Protagonisten, die das Glas dann doch eher halb voll sehen: „Ich bin sehr optimistisch, dass der Standort Deutschland weiterhin wettbewerbsfähig sein wird“, sagt zum Beispiel Robert Friedmann, Chef des Künzelsauer Schrauben-Giganten Würth. Die Qualifikation der Menschen und das Ausbildungssystem hierzulande seien weiterhin eine große Stärke. „Wir investieren weiter am Standort Deutschland“, versichert Friedmann. So oder so – eine Menge Arbeit liegt auf alle Fälle vor den Verantwortlichen.
„In der Summe ergibt sich eine gefährliche Mischung.“