Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Meine Kinder haben körperlich Angst“
Bürgerdialog in Illerkirchberg – Vater der getöteten Ece spricht erstmals öffentlich
ILLERKIRCHBERG - Kaum einer nimmt zunächst Notiz von dem Mann in dem dunklen Kapuzenpulli, er geht unter in der Masse von rund 300 Menschen, die sich am Mittwochabend in der Gemeindehalle von Illerkirchberg (Alb-DonauKreis) versammelt haben. Anlass: ein vom Rathaus organisierter „Bürgerdialog“. Dessen Ziel: die Aufarbeitung eines Verbrechens, das vor wenigen Wochen ganz Deutschland bewegt hat.
Als sich der Mann erhebt, sich ein Mikrofon reichen lässt und zu sprechen beginnt, wird es plötzlich still in der Halle. Fast so still wie während der Schweigeminute, mit der die Veranstaltung eröffnet worden ist. Er heiße Mesut, sagt der Mann, der sich eigentlich keinem der Anwesenden vorstellen muss, dies aber trotzdem tut. Am 5. Dezember verlor er seine 14-jährige Tochter Ece durch einen Messerangriff, verübt von einem Flüchtling aus Eritrea. Dieser hat die Tat mittlerweile gestanden.
Ece und eine 13-jährige Freundin waren gerade auf dem Weg zur Schule, als der 27-Jährige sie im Morgengrauen auf der Straße abpasste und auf sie einstach. Zunächst attackierte er die 13-Jährige, die jedoch schwer verletzt flüchten konnte. Ece erlag wenig später ihren schweren Verletzungen in der Ulmer Uniklinik.
Seine kurze Rede beginnt Eces Vater am Mittwoch mit einem Lob. „Die Polizei hat ihre Arbeit super gemacht“, sagt er. Er wirkt müde, ausgelaugt. Fährt dann aber fort mit einem Einblick in sein Seelenleben und äußert eine Idee, wie mit dem Gebäude verfahren werden könnte, in dem der Täter gelebt hat. Auf dem Asphalt unmittelbar vor dem Haus traf seine Tochter auf ihren Mörder.
Er wünsche sich, sagt Mesut S., dass das Haus „plattgemacht“werde. „Meine restlichen zwei Kinder haben Angst, körperliche Angst“, wenn sie sich der heruntergekommenen Flüchtlingsunterkunft, die der Gemeinde gehört, auch nur näherten.
Doch Markus Häußler, seit 2020 Bürgermeister von Illerkirchberg, verpasst es, diesen Ball aufzunehmen. Was mit dem Haus geschehe, stehe noch nicht fest, antwortet er nüchtern auf eine entsprechende
Frage eines Bürgers. Statt klar auszusprechen, dass es tatsächlich nur eine Option geben kann für die Baracke. Jeder weiß das in Illerkirchberg und wohl auch Häußler selbst. Allein der Zustand lässt nur einen Abriss zu. Doch Häußler spricht es nicht aus.
Es ist nicht der einzige Moment an diesem Abend, in dem der Bürgermeister eine etwas unglückliche Figur abgibt. Und er ist damit nicht alleine. Auf der Bühne neben ihm sitzen auf Hockern Vertreter verschiedener Behörden, die involviert sind in die Aufklärung des Verbrechens: Polizei, Landratsamt, Regierungspräsidium, Justizministerium. Doch befriedigende Antworten können sie nicht liefern.
Schon im Vorfeld war klar: Neue Erkenntnisse – vor allem zum Motiv des Flüchtlings, auf die Mädchen einzustechen – wird es nicht geben. Doch die Behördenvertreter trugen das Ihrige dazu bei, dass sich bei dem ein oder anderen Anwesenden schnell Frust einstellte. Über weite Strecken glich der als „Dialog“zwischen Bürgern und Behörden angekündigte Abend einem Behördenmonolog. Erst nach einer Stunde, um 19.25 Uhr, konnte ein Bürger eine erste Frage stellen.
Zuvor erläuterten die Fachleute teils unverständlich, ausführlich und erschöpfend allgemeine Hintergründe von Ermittlungsarbeit und warum der Alb-Donau-Kreis und im Speziellen Illerkirchberg ein sehr sicherer Ort zum Leben seien (sagt die Statistik). Im Grunde Wikipedia-Wissen.
Dabei waren die Bürger so zahlreich gekommen, weil sie konkret die Finger in die Wunden legen wollten. Auch Wut blitzte zwischen den Zeilen ihrer Fragen durch. Diese lauteten unter anderem: Wie wird sichergestellt, dass Menschen aus fremden Kulturen auch Frauen respektieren, wenn ihnen dies in ihrem Heimatland nicht beigebracht wird? Wer betreut eigentlich die geflüchteten Menschen? Was können wir als Bürger konkret tun, damit Asylsuchende integriert werden?
Es war zu spüren: Bei der großen Mehrheit der Anwesenden ist trotz der Ermordung von Ece nach wie vor ein Wille vorhanden, Menschen, die aus ihrem Heimatland geflüchtet sind, aufzunehmen. Ihnen eine neue Heimat zu bieten. Etwas anderes bleibt dem Dorf, wie vielen anderen im Südwesten, aber auch gar nicht übrig. Emanuel Sontheimer, zuständig für Flüchtlinge beim Alb-DonauLandratsamt, kündigte für Donnerstag schon die nächsten 38 ukrainischen Flüchtlinge an, die er neu im Kreis unterbringen muss. Aktuell leben in den 55 Kommunen des AlbDonau-Kreises 1089 Flüchtlinge. Tendenz steigend.
Wichtig für die Illerkirchberger: Sie wollen ernst genommen werden von den Behörden – in die sie zuletzt aber Vertrauen verloren haben. Nach dem Mord an Ece nämlich mussten sie den Medien entnehmen, dass ein verurteilter Vergewaltiger, der 2019 in einer anderen Flüchtlingsunterkunft in dem Dorf ein junges Mädchen missbraucht hatte, wieder in Illerkirchberg lebt. Ebenfalls aus der
Presse, die „Schwäbische Zeitung“berichtete exklusiv, erfuhren sie dann: Der Afghane ist den zuständigen Stellen abhandengekommen, hält sich nicht mehr an Meldeauflagen, scheint untergetaucht zu sein.
Folge: Das Landratsamt lässt von der Polizei den Aufenthalt des Mannes ermitteln, der vom Justizministerium als „gefährlich“eingestuft wird, wie Ministeriumsmann Falk Fritzsch beim Bürgerdialog erläutert. Involviert sind ebenso das Ulmer Landgericht und die Staatsanwaltschaft. Doch das macht es nicht besser. Denn es stellt sich heraus: Der ausreisepflichtige Afghane hat sich gar nicht abgesetzt, sondern befindet sich in einem Nachbarlandkreis, ist sogar telefonisch erreichbar. Das Landgericht bestätigt mittlerweile: Seine Bewährungshelferin hatte die ganze Zeit Kontakt zu dem Mann. Er soll in einem Imbiss jobben.
Die Illerkirchberger jedenfalls müssen das Behördenchaos ausbaden. Und auch, wenn sie das nicht wollen: den Mann ziemlich sicher wieder aufnehmen. Vorschrift ist Vorschrift. Beim Bürgerdialog machen die Behördenvertreter stellenweise selbst nicht den Eindruck, die eigenen Zuständigkeiten zu überblicken. Bei den Anwesenden brandet in der Folge immer wieder höhnisches Gelächter auf.
Bürgermeister Markus Häußler kündigt an, gemeinsam mit der Bevölkerung nun weitere Schritte im Aufarbeitungsprozess gehen zu wollen. Womöglich hört er dabei doch noch auf Eces Vater, der schon eine konkrete Vorstellung davon hat, wie der Tatort umgestaltet werden könnte. Statt der baufälligen Unterkunft schwebt ihm eine „grüne Wiese“vor. An der Illerkirchbergs Kinder – und die Geschwister von Ece – vorbeilaufen können, ohne an das Grauen vom 5. Dezember erinnert zu werden.