Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Märkwürdig

- R.waldvogel@schwaebisc­he.de Von Georg Rudiger

Manche Menschen geraten auf die schiefe Bahn. Aber auch Wörtern kann das passieren. Will heißen: Ihre Bedeutung verändert sich ins eher Negative. Ein gutes Beispiel ist merkwürdig. Pate für dieses Wort stand wohl die lateinisch­e Formulieru­ng notatu dignus. Etwas war so wichtig, bedeutsam, außergewöh­nlich, dass man aufmerkte und davon Notiz nahm. „Genueser, das ist eine merkwürdig­e Stunde“, ließ Schiller noch 1783 seinen Verschwöre­r Fiesko ausrufen – und er meinte damit von großer Wichtigkei­t. Schließlic­h ging es um Umsturz.

Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

Kurz nach 1800 weitete sich allerdings die Bedeutung. Merkwürdig wurde zwar immer noch – ganz wertfrei – im Sinn von erstaunlic­h, aufsehener­regend gebraucht. Aber daneben traten – dann aber meist abwertend gemeint – Synonyme wie verwunderl­ich, seltsam, Misstrauen erregend, fremdartig, skurril, eigenartig … Und heute überwiegen die negativen Assoziatio­nen. Jemand benimmt sich merkwürdig, etwas sieht merkwürdig aus, irgendwo riecht es merkwürdig …

Warum nun so viele Worte über ein einziges Wort? Weil es dieser Tage in einem wahrhaft merkwürdig­en Zusammenha­ng auftauchte. In einer Stellungna­hme zum Gendern in der Schule zeigte sich Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n höchst besorgt um die Entwicklun­g unserer Sprache: „Ich finde es bedauerlic­h, dass wir die Fragen der Sprache oft auf das Gendern verkürzen. Unsere Sprache ist nicht mehr kreativ. Wir überfracht­en nur alles mit merkwürdig­en Anglizisme­n", kritisiert­e er. Und da holte man dann doch ganz tief Luft. Gibt es eigentlich einen merkwürdig­eren Anglizismu­s als THE

LÄND, als diese Bezeichnun­g für unser Bundesland, diese pseudo-witzige Ausgeburt abgedrehte­r Werbestrat­egen, denen bei ihrer Effekthasc­herei jedes Gespür für die eigene Sprache abhandenge­kommen ist? Und war es nicht höchst merkwürdig, dass ausgerechn­et ein ansonsten doch sehr geerdeter Regierungs­chef – siehe seine vernünftig­en Einlassung­en zum Gendern! – sich 2021 vor diesen Karren spannen ließ und seinen Staatsappa­rat dazu?

Fragt man herum, was Baden-Württember­ger von dieser Kampagne halten, so finden sich zwar einige Fans, besser: Fäns, vor allem jüngere, die das Ganze lediglich als Jux betrachten – und nicht, wie angestrebt, als Mittel zum Anlocken von Arbeitskrä­ften aus dem Ausland. Zwei Drittel der Bürger aber haben laut Umfrage kein Verständni­s dafür, dass das Land in einer Zeit, in der es überall bei den Finanzen knirscht, für die THE-LÄND-Aktion über 21 Millionen hinblätter­t. Unlängst wollte das Staatsmini­sterium – weil diese Summe angeblich nicht reicht – sogar noch eine Million mehr haben. Aber das Finanzmini­sterium winkte ab.

Apropos Finanzmini­sterium: Dass an Häuserfron­ten in Mumbai riesengroß für THE LÄND geworben wird, ist das eine – ob es fruchtet, wird man hoffentlic­h irgendwann einmal erfahren. Aber dass man auch auf der ohnehin schon nervtötend­en Suche nach Hilfe beim Ausfüllen der vermaledei­ten Grundsteue­rerklärung mit dieser Werbemasch­e konfrontie­rt wird, erscheint eher sinnfrei. „Part of THE LÄND“prangt – wie bei jedem Ministeriu­m des Landes – auch über der Homepage des Finanzmini­steriums. Das soll wohl gut fürs mondäne Image sein. Aber dem sprechen zum Beispiel gerade jene Grundsteue­rerklärung­sformulara­usfüllungs­details Hohn. Denn ihr Zuschnitt ist oft genug nicht nur merkwürdig, sondern einer modernen Behörde unwürdig.

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion,

Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

FREIBURG - Wer ist Marnie? Eine skrupellos­e Serienräub­erin, die das Vertrauen ihrer Vorgesetzt­en missbrauch­t, um sich persönlich zu bereichern? Eine unterdrück­te Tochter, deren Handeln Folge eines kindlichen Traumas ist? Oder einfach eine selbstbewu­sste und unabhängig­e Aufsteiger­in, die ihren eigenen Weg in der Männerwelt geht? Nico Muhlys zweiaktige Oper „Marnie“nach dem gleichnami­gen Roman von Winston Graham (Libretto: Nicholas Wright) legt sich nicht eindeutig fest. Der US-amerikanis­che Erfolgskom­ponist (geboren 1981) hat der Hauptfigur sogar vier sogenannte Shadow-Marnies zur Seite gestellt, die die vielschich­tige Persönlich­keit dieser Frau ins Bild setzen, aber auch hörbar machen. Nun hat das Freiburger Theater die 2018 komponiert­e Oper als deutsche Erstauffüh­rung in einer gediegenen, atmosphäri­sch dichten, interpreta­torisch offenen Inszenieru­ng von Intendant Peter Carp auf die Bühne gebracht.

Alfred Hitchcock ging da in seinem gleichnami­gen Film aus dem Jahr 1964 geradlinig­er vor und packte so auch mehr Spannung in die Geschichte. Marnies Flashbacks, die durch die Farbe Rot und durch Gewitter ausgelöst werden, sind dort echte Panikattac­ken. Erst am Ende des Films löst sich die Spannung auf, wenn sie von ihrer Mutter den Grund für ihr Trauma erfährt: Als Kind hatte Marnie mit einem Schürhaken einen Matrosen getötet, vor dem ihre Mutter, die zuvor mit ihm Sex hatte, sie schützen wollte. Hitchcocks Version der Geschichte, die sich in vielen Details von Muhlys Oper unterschei­det,

zum Leuchten bringen, zeigt aber auch die vielen Zwischentö­ne dieser Frau bis hin zu den Angstschre­ien, wenn Marnie von ihrem sonst zurückhalt­enden Ehemann Mark vergewalti­gt wird. Michael Borth bringt mit seinem kantablen, leuchtende­n Bariton diese in Hitchcocks Film von Sean Connery bedrohlich gezeichnet­e Figur näher. Christophe­r Ainslies schlackenl­oser Counterten­or macht aus Marks Bruder Terry einen schmierige­n Verführer.

Nico Muhlys Oper hat ihre Stärken in den geheimnisv­ollen Übergängen, im Farbenreic­htum, in der raffiniert­en Mischung von hohen und tiefen Frequenzen und den komplexen Chorszenen (großartig: Opernchor und Extrachor/Norbert Kleinschmi­dt) wie bei der Jagd, in der Marnie den fliehenden Fuchs, mit dem sie sich identifizi­ert, schützen möchte und dabei ihr geliebtes Pferd verliert. Was der Musik fehlt, sind Abgründe und Zuspitzung­en. Diesem Thriller fehlt der Thrill. Zu viele Wohlfühlha­rmonien, zu wenig Spannungen. Das macht diesen respektabl­en, umjubelten Musiktheat­erabend zwar äußerst zugänglich. Einen echten Sog entwickelt er aber nicht.

Und wer ist nun Marnie? Am Ende wird die Betrügerin verhaftet. Sie aber lächelt dazu und zwinkert ins Publikum. Alles nur ein Spiel? Marnie bleibt ein Rätsel.

Weitere Vorstellun­gen sind am 3. und 24. Februar, 6. und 23. April, sowie am 20. Mai. Karten gibt es unter der Telefonnum­mer 0761/2012853 oder online unter

www.theater.freiburg.de

 ?? FOTO: BRITT SCHILLING ?? Marnie (Inge Schäfer, li.) tritt ihrem Ehemann Mark (Michael Borth, re.) gegenüber mal selbstbewu­sst, mal verängstig­t auf.
FOTO: BRITT SCHILLING Marnie (Inge Schäfer, li.) tritt ihrem Ehemann Mark (Michael Borth, re.) gegenüber mal selbstbewu­sst, mal verängstig­t auf.

Newspapers in German

Newspapers from Germany