Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Märkwürdig
Manche Menschen geraten auf die schiefe Bahn. Aber auch Wörtern kann das passieren. Will heißen: Ihre Bedeutung verändert sich ins eher Negative. Ein gutes Beispiel ist merkwürdig. Pate für dieses Wort stand wohl die lateinische Formulierung notatu dignus. Etwas war so wichtig, bedeutsam, außergewöhnlich, dass man aufmerkte und davon Notiz nahm. „Genueser, das ist eine merkwürdige Stunde“, ließ Schiller noch 1783 seinen Verschwörer Fiesko ausrufen – und er meinte damit von großer Wichtigkeit. Schließlich ging es um Umsturz.
Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutungen und Schreibweisen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.
Kurz nach 1800 weitete sich allerdings die Bedeutung. Merkwürdig wurde zwar immer noch – ganz wertfrei – im Sinn von erstaunlich, aufsehenerregend gebraucht. Aber daneben traten – dann aber meist abwertend gemeint – Synonyme wie verwunderlich, seltsam, Misstrauen erregend, fremdartig, skurril, eigenartig … Und heute überwiegen die negativen Assoziationen. Jemand benimmt sich merkwürdig, etwas sieht merkwürdig aus, irgendwo riecht es merkwürdig …
Warum nun so viele Worte über ein einziges Wort? Weil es dieser Tage in einem wahrhaft merkwürdigen Zusammenhang auftauchte. In einer Stellungnahme zum Gendern in der Schule zeigte sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann höchst besorgt um die Entwicklung unserer Sprache: „Ich finde es bedauerlich, dass wir die Fragen der Sprache oft auf das Gendern verkürzen. Unsere Sprache ist nicht mehr kreativ. Wir überfrachten nur alles mit merkwürdigen Anglizismen", kritisierte er. Und da holte man dann doch ganz tief Luft. Gibt es eigentlich einen merkwürdigeren Anglizismus als THE
LÄND, als diese Bezeichnung für unser Bundesland, diese pseudo-witzige Ausgeburt abgedrehter Werbestrategen, denen bei ihrer Effekthascherei jedes Gespür für die eigene Sprache abhandengekommen ist? Und war es nicht höchst merkwürdig, dass ausgerechnet ein ansonsten doch sehr geerdeter Regierungschef – siehe seine vernünftigen Einlassungen zum Gendern! – sich 2021 vor diesen Karren spannen ließ und seinen Staatsapparat dazu?
Fragt man herum, was Baden-Württemberger von dieser Kampagne halten, so finden sich zwar einige Fans, besser: Fäns, vor allem jüngere, die das Ganze lediglich als Jux betrachten – und nicht, wie angestrebt, als Mittel zum Anlocken von Arbeitskräften aus dem Ausland. Zwei Drittel der Bürger aber haben laut Umfrage kein Verständnis dafür, dass das Land in einer Zeit, in der es überall bei den Finanzen knirscht, für die THE-LÄND-Aktion über 21 Millionen hinblättert. Unlängst wollte das Staatsministerium – weil diese Summe angeblich nicht reicht – sogar noch eine Million mehr haben. Aber das Finanzministerium winkte ab.
Apropos Finanzministerium: Dass an Häuserfronten in Mumbai riesengroß für THE LÄND geworben wird, ist das eine – ob es fruchtet, wird man hoffentlich irgendwann einmal erfahren. Aber dass man auch auf der ohnehin schon nervtötenden Suche nach Hilfe beim Ausfüllen der vermaledeiten Grundsteuererklärung mit dieser Werbemasche konfrontiert wird, erscheint eher sinnfrei. „Part of THE LÄND“prangt – wie bei jedem Ministerium des Landes – auch über der Homepage des Finanzministeriums. Das soll wohl gut fürs mondäne Image sein. Aber dem sprechen zum Beispiel gerade jene Grundsteuererklärungsformularausfüllungsdetails Hohn. Denn ihr Zuschnitt ist oft genug nicht nur merkwürdig, sondern einer modernen Behörde unwürdig.
Wenn Sie Anregungen zu Sprachthemen haben, schreiben Sie! Schwäbische Zeitung, Kulturredaktion,
Karlstraße 16, 88212 Ravensburg
FREIBURG - Wer ist Marnie? Eine skrupellose Serienräuberin, die das Vertrauen ihrer Vorgesetzten missbraucht, um sich persönlich zu bereichern? Eine unterdrückte Tochter, deren Handeln Folge eines kindlichen Traumas ist? Oder einfach eine selbstbewusste und unabhängige Aufsteigerin, die ihren eigenen Weg in der Männerwelt geht? Nico Muhlys zweiaktige Oper „Marnie“nach dem gleichnamigen Roman von Winston Graham (Libretto: Nicholas Wright) legt sich nicht eindeutig fest. Der US-amerikanische Erfolgskomponist (geboren 1981) hat der Hauptfigur sogar vier sogenannte Shadow-Marnies zur Seite gestellt, die die vielschichtige Persönlichkeit dieser Frau ins Bild setzen, aber auch hörbar machen. Nun hat das Freiburger Theater die 2018 komponierte Oper als deutsche Erstaufführung in einer gediegenen, atmosphärisch dichten, interpretatorisch offenen Inszenierung von Intendant Peter Carp auf die Bühne gebracht.
Alfred Hitchcock ging da in seinem gleichnamigen Film aus dem Jahr 1964 geradliniger vor und packte so auch mehr Spannung in die Geschichte. Marnies Flashbacks, die durch die Farbe Rot und durch Gewitter ausgelöst werden, sind dort echte Panikattacken. Erst am Ende des Films löst sich die Spannung auf, wenn sie von ihrer Mutter den Grund für ihr Trauma erfährt: Als Kind hatte Marnie mit einem Schürhaken einen Matrosen getötet, vor dem ihre Mutter, die zuvor mit ihm Sex hatte, sie schützen wollte. Hitchcocks Version der Geschichte, die sich in vielen Details von Muhlys Oper unterscheidet,
zum Leuchten bringen, zeigt aber auch die vielen Zwischentöne dieser Frau bis hin zu den Angstschreien, wenn Marnie von ihrem sonst zurückhaltenden Ehemann Mark vergewaltigt wird. Michael Borth bringt mit seinem kantablen, leuchtenden Bariton diese in Hitchcocks Film von Sean Connery bedrohlich gezeichnete Figur näher. Christopher Ainslies schlackenloser Countertenor macht aus Marks Bruder Terry einen schmierigen Verführer.
Nico Muhlys Oper hat ihre Stärken in den geheimnisvollen Übergängen, im Farbenreichtum, in der raffinierten Mischung von hohen und tiefen Frequenzen und den komplexen Chorszenen (großartig: Opernchor und Extrachor/Norbert Kleinschmidt) wie bei der Jagd, in der Marnie den fliehenden Fuchs, mit dem sie sich identifiziert, schützen möchte und dabei ihr geliebtes Pferd verliert. Was der Musik fehlt, sind Abgründe und Zuspitzungen. Diesem Thriller fehlt der Thrill. Zu viele Wohlfühlharmonien, zu wenig Spannungen. Das macht diesen respektablen, umjubelten Musiktheaterabend zwar äußerst zugänglich. Einen echten Sog entwickelt er aber nicht.
Und wer ist nun Marnie? Am Ende wird die Betrügerin verhaftet. Sie aber lächelt dazu und zwinkert ins Publikum. Alles nur ein Spiel? Marnie bleibt ein Rätsel.
Weitere Vorstellungen sind am 3. und 24. Februar, 6. und 23. April, sowie am 20. Mai. Karten gibt es unter der Telefonnummer 0761/2012853 oder online unter
www.theater.freiburg.de